: Mit Ror Wolf in den Abgrund sausen
Der heimliche Dichter der EM: Vor wenigen Wochen wurde Ror Wolf mit dem Friedrich-Hölderlin-Preis geehrt. Heute wird das „Hörspiel des Jahres 2007“ nach einem seiner Texte im Teehaus im Englischen Garten aufgeführt
Irgendetwas muss Ror Wolf verkehrt gemacht haben. Wie anders ist es zu erklären, dass ein häufig ausgezeichneter und von Kritik und Kollegen bewunderter Autor – erst vor drei Wochen erhielt er den Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg – 44 Jahre nach seinem Romandebüt immer noch zu den eher weniger bekannten Schriftstellern zählt? Wenn heute ein ebenfalls prämiertes Hörspiel nach einem seiner letzten Texte im Teehaus im Englischen Garten aufgeführt wird, dürfte dies wenig daran ändern.
Vielleicht ist es Ror Wolfs leicht verschrobene Hintergründigkeit, die manchem nicht geheuer ist. Der Leser wird von ihm kurz bei der Hand genommen, um im nächsten Moment zusammen mit seiner Erwartung in den Abgrund zu sausen – bei der Lektüre ergeht es einem wie Wolfs Lyrik-Alter-Ego Hans Waldmann, den der Erzähler gnadenlos in Löcher, Krater und Spalten stürzen lässt.
Der 1932 im südthüringischen Saalfeld geborene Wolf mutet seinen Lesern also einiges zu. Seit dem monströsen Roman „Fortsetzung des Berichts“ von 1964 sind die Texte mit den Jahren lediglich kürzer geworden. In den Erzählbänden „Nachrichten aus der bewohnten Welt“ und „Zwei oder drei Jahre später“ scheint sich jede Menge zu ereignen, ohne dass man als Leser in die erzählte Welt einbezogen würde. Die Texte genügen sich selbst, ihre Absicht bleibt verborgen. Ironie lauert hinter jedem Komma. Ror Wolf ist indes kein Sprachhermetiker, sondern vor allem Sprachcollagierer. Aus Fußballreportagen hat er Texte und Hörspiele montiert, ohne je ein großes Fußballpublikum zu erreichen: „Fußball ist heute schon mehr als ein Spiel, das Freude und Lust weckt; es beginnt, ein Teil deutscher Volkskultur zu werden. Diese Angaben sprechen für sich“, so Wolfs Befund in „Das nächste Spiel ist immer das schwerste“ aus dem Jahr 1982. Die EM, die in zwei Tagen zu Ende geht, gibt ihm Recht.
Große Wissensprosa kompiliert Wolfs „Wirklichkeitsforscher“ Raoul Tranchirer in der sechsbändigen „Enzyklopädie für unerschrockene Leser“. Stichwort über Stichwort, im Stil von Konversationslexika gehalten, führt er seit dem 1983 erschienenen Band „Raoul Tranchirers vielseitiger großer Ratschläger für alle Fälle der Welt“ den Willen zum Gebrauchswissen unerbittlich in die Irre. Das visuelle Pendant zu Wolfs fragmentarischem Sprachverständnis sind seine Collagen, die er aus Material der bürgerlichen Bildwelt der vorletzten Jahrhundertwende fertigt. Ihre absurden Motivkombinationen verheißen ebenso wenig Gutes wie die lexikalischen Absonderlichkeiten, neben denen sie unvermittelt stehen.
Mit „Raoul Tranchirers Bemerkungen über die Stille“ hat Ror Wolf seine Enzyklopädie vor drei Jahren abgeschlossen. Noch einmal wird die Welt in skurrilen Betrachtungen gespiegelt und verdreht, zusammengefasst unter Stichworten wie „Stille“, „Lautlosigkeit“ oder „Töne“: „Töne sind etwas Schönes“, erfährt der geneigte Leser. Doch auch weniger klangvolle Themen wie „Ausflugsdampfer“, „Mordlust“ oder „Nudelsuppe“ kommen zur Sprache. In dieser Welt regieren Worte, sie geben Auskunft vor allem über sich selbst.
„Nach seinen Bemerkungen über die Stille schweigt Raoul Tranchirer“, verkündet das Schlusswort. Dem Komponisten Thomas Gerwin ist zu verdanken, dass Tranchirer sein Wort nicht gehalten hat. Aus den einzelnen Texten baute Gerwin im vergangenen Jahr ein Hörspiel, mit dem er den Enzyklopädisten zum Sprechen bringt und ihm einige „Avatare“ zur Seite stellt. Das gefiel der Jury der Akademie der darstellenden Künste, sie verlieh der Arbeit den Hörspielpreis 2007. Zur Stille schweigt Tranchirer dieses Mal: Gerwin hat den Text des Stichworts ausgespart. Denn, so Tranchirer: „Es gibt eine Zeit für Geräusche und eine Zeit für die Stille.“
TIM CASPAR BOEHME
27. Juni, „Raoul Tranchirers Bemerkungen über die Stille“, Teehaus im Englischen Garten, im Tiergarten, 20 Uhr