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Archiv-Artikel

„Ruinieren Sie Ihren Nächsten“

KARL HOMANN, 65, forscht und lehrt als Professor für Philosophie und Wirtschaftsethik an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er promovierte sowohl in Philosophie als auch in Volkswirtschaftslehre und war einer der ersten Wissenschaftler, die beide Disziplinen verknüpften.

INTERVIEW HANNES KOCH

taz: Herr Homann, erstmals, so hat eine Umfrage gezeigt, unterstützt eine Mehrheit der Bundesbürger die soziale Marktwirtschaft nicht mehr. Sind die großen Unternehmen für diese Entwicklung verantwortlich?

Karl Homann: Ja. Die Menschen fragen nach Gerechtigkeit. Und da reicht ihnen der Hinweis auf die ökonomische Leistung überhaupt nicht. Im Gegenteil, diese Art von Antwort brüskiert sie eher. Dass die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland um eine Million gesunken ist, verbessert die Akzeptanz für unser Wirtschaftssystem nicht.

Was machen die Unternehmen falsch?

Wir haben es mit einem sehr grundsätzlichen Problem zu tun. Unsere ethischen Vorstellungen wie Teilen, Mitleid und Solidarität stammen aus der vormodernen Gesellschaft, aus der Zeit vor dem Kapitalismus. Heute dagegen leben wir unter den Bedingungen des Marktes und des Gewinnstrebens – diese Realität steht für viele Menschen noch immer in einem intuitiven Gegensatz zum Gebot der Solidarität.

Das mag die katholische Kirche so sehen. Aber haben wir nicht längst alle die Philosophie des liberalen Denkers Adam Smith akzeptiert, der zufolge die Marktwirtschaft automatisch dem Wohle aller dient, wenn nur jeder seinem Egoismus folgt?

Der Wettbewerb ist ein zentrales Element der Marktwirtschaft. Er kann die Lage der Menschen dramatisch verbessern, wenn der politische Rahmen stimmt. Trotzdem ist es intuitiv ungeheuer schwer zu verstehen, dass Konkurrenz ein sittlicher Imperativ sein soll. Solange die Mittel fair bleiben, dürfen, ja sollen Sie Ihren Nächsten in den Ruin treiben. Und sonntags sitzen Sie mit ihm zusammen auf der Kirchenbank. Das muss man erst einmal kapieren.

Sie sagen: Selbst nach 200 Jahren Erfahrung mit der Marktwirtschaft gelingt es den Menschen nicht, sich an die Realität zu gewöhnen. Sind wir einfach zu träge?

Praktisch gelingt es den meisten durchaus, in diesem Leben zurechtzukommen. Aber theoretisch und normativ haben viele die Marktwirtschaft noch nicht begriffen. Gerade deshalb wächst der Wirtschaft eine neue Verantwortung zu, eine Kommunikationsverantwortung. Die Topmanager der Unternehmen müssten sich offensiv in den gesellschaftlichen Wertediskurs einbringen. Leider hat unsere Wirtschaftselite in ihrer Ausbildung aber nicht gelernt, normativ zu argumentieren. Die moralischen Antworten, die die Menschen erwarten, bekommen sie nicht. Sie fühlen sich allein gelassen und entziehen der Marktwirtschaft ihre Legitimation.

Korruption bei Siemens und VW, Bespitzelung bei Lidl und der Telekom – die Konzerne machen nichts falsch, sondern stellen ihre Politik nur unzureichend dar?

Natürlich kann man diesen Unternehmen Fehler vorwerfen. Aber Fehler werden überall gemacht. Das ist nicht der Punkt. Ich rate den Vorständen, sich mehr um ihre moralische Betriebsgenehmigung, die „licence to operate“, zu kümmern. Sie müssen um die Akzeptanz in der Gesellschaft kämpfen.

Ein Unternehmen wie Siemens betrieb jahrelang systematische Korruption in Milliardenhöhe und betrachtete dies als normale Geschäftspraktik. Da hat es doch nichts mit fehlendem Urvertrauen in die Marktwirtschaft zu tun, wenn die Bevölkerung am System und seinen Eliten zu zweifeln beginnt?

Im Falle der Korruption sind wir tatsächlich an einem sehr kritischen Punkt. Korruption stellt nicht nur ein individuelles Versagen, sondern vor allem ein Organisationsversagen dar. Meine These ist, dass uns eine Ethik für Organisationen fehlt.

Kann man sagen, dass das Gewissen von Organisationen schwächer ausgeprägt ist als das von Individuen?

Ein „Gewissen“ haben eigentlich nur natürliche Personen. Die Frage ist, was dem in einer Organisation entspricht. Auf jeden Fall muss das Äquivalent des Gewissens künstlich durch organisatorische Vorkehrungen etabliert und betrieben werden. Firmen verhalten sich nur dann moralisch akzeptabel, wenn sie einen Grundwerte-Katalog haben, eine Führungsschicht, die diese Grundwerte unterstützt, und funktionierende Mechanismen, um die Werte täglich aufs Neue durchzusetzen.

Wohlklingende Ethik-Richtlinien besitzen inzwischen alle großen Unternehmen. Besteht das eigentliche Problem nicht in der praktischen Umsetzung und Kontrolle?

Die Manager müssen erkennen, dass Unternehmensmoral kein Kosten-, sondern ein Produktionsfaktor ist. Durch den Verzicht auf Korruption hätte sich Siemens Ausgaben für Schmiergeld, Strafen und Anwaltskosten in Höhe von rund 5 Milliarden Euro erspart. Angesichts dieser Dimension lohnen sich die Investitionen durchaus, die etwa ein Whistleblower-System kostet.

Wie können sich Unternehmen damit vor Korruption schützen?

Whistlerblower nennt man Leute, die einen Warnpfiff ertönen lassen – anonyme Tippgeber also, Beschäftigte im Unternehmen, die von illegalen Praktiken erfahren haben. Das Unternehmen muss solche Mitarbeiter vor der Repression ihrer Kollegen und Vorgesetzten schützen, damit sie ihre Informationen öffentlich machen.

Schwer vorstellbar – die Vorstände sollen dafür sorgen, dass sie möglicherweise selbst verraten werden?

Das meine ich mit Organisationsethik. Auch unabhängig von den jeweils leitenden Individuen muss das Unternehmen als Ganzes in der Lage sein, seine moralischen Standards aufrechtzuerhalten. Es ist im vitalen Interesse des Unternehmens, Schutzmechanismen einzurichten.

Sollte die Politik den Unternehmen solche Dinge genauer vorschreiben?

Ich bin da sehr zurückhaltend. Die Verhaltensweisen vieler Politiker sind haarsträubend. Wie kann ein Minister erklären, sein Nokia-Handy wegzuschmeißen, weil die Firma Arbeitsplätze ins Ausland verlagert? Das ist reiner Populismus. Der ordnungspolitische Sachverstand der Politik scheint verlorengegangen. Aber man muss sagen, dass auch die Gewerkschaften und die Kirchen in diesen Fragen keine ethische Führungsrolle übernehmen. Deswegen sage ich den Unternehmen: Macht es selbst, aber macht es gescheit und offensiv, und geht in den gesellschaftlichen Diskurs.