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Archiv-Artikel

Fischadler und Kaiserbäder

Auf dem Ostseeküsten-Radweg von Travemünde bis Usedom: Die 600-Kilometer-Tour bietet neben einsamen Stränden, Urwald-Resten und seltenen Tieren auch alte Seebäder und ein Stadtzentrum, das auf der Unseco-Weltkulturerbe-Liste steht

Von REIMAR PAUL

Der Blick von der Terrasse des Hotels „Walfischhaus“ auf den Saaler Bodden ist eine Wucht. Ein Segelboot hat Kurs auf den kleinen Hafen genommen, Feriengäste genießen die Abendsonne auf Bänken am Wasser, an der Fischbrötchen-Bude ist noch Betrieb. Weit weg, am anderen Ufer, ist das rote Dach der Kirche von Saal zu sehen. Über dem Bodden kreist ein Fischadler.

Wir sind in Born, ungefähr auf halber Strecke des Ostseeküsten-Radweges von Travemünde nach Usedom auf dem Darß gelegen, dem mittleren Teil einer Halbinsel, zu der außerdem noch Fischland und Zingst gehören.

Radeln mit dem Wind

Die Frage, ob man den Ostseeküsten-Radweg von Westen nach Osten fährt oder in umgekehrter Richtung, ist für das Gelingen der Tour mit entscheidend und doch nicht eindeutig zu beantworten. Gegenwind kann das Radeln ziemlich vermiesen. An der mecklenburgischen Ostseeküste kommt der Wind, wie überall in Norddeutschland, meistens aus westlichen Richtungen – meistens, aber längst nicht immer. Wir sind im Westen gestartet und hatten Glück mit Wind und Wetter. Acht Tage waren wir unterwegs.

Am Anfang der Radtour steht eine kurze Schiffsüberfahrt. Von dem im Sommer rummeligen Travemünde dümpelt die Fähre auf die Halbinsel Priwall. „Da hinten fing schon die Ostzone an“, klärt der Bootsmann eine Reisegruppe aus dem Rheinland auf. „Die Grenzer haben mit ihren Ferngläsern immer rüber geguckt, ob sie welche oben ohne am Strand entdecken konnten.“

Das erste Stück führt der Ostseeküsten-Radweg ein paar Kilometer vom Meer entfernt durch ein Naturschutzgebiet. Früher ein veritabler Urwald, gibt es im „Klützer Winkel“ heute nur noch einige kleine bewaldete Enklaven. Obwohl der Radweg intensiv beworben wird und prima ausgeschildert ist, sind zumindest auf diesem Teilstück kaum Radler unterwegs. Die Gegend ist dünn besiedelt, der Strand, auf den wir nach zwei Stunden wieder stoßen, ist menschenleer.

Das ändert sich in Boltenhagen. Der Ort firmierte dank seines kilometerlangen Sandstrandes schon vor 200 Jahren als Familienbad. Schon am ersten Abend stellt sich heraus, dass es zur Ferienzeit mit Unterkünften direkt am Meer nicht so einfach ist – jedenfalls wenn man nicht vorgebucht hat und nur für eine Nacht bleibt. In zweiter oder dritter Reihe findet sich aber meist doch noch ein Zimmer. Ein Tipp sind Jugendherbergen: Viele Häuser wurde in den vergangenen Jahren komplett modernisiert oder, wie auf dem Darß, ganz neu gebaut. Es gibt überall auch Zweibettzimmer.

Manchmal direkt am Strand, bisweilen durch das Hinterland führt der Radweg weiter in die Hansestadt Wismar mit ihrem sorgfältig sanierten und von der Unesco zum Welterbe erklärten Zentrum. Über die Ostseebäder Rerik und Bad Kühlungsborn gelangen wir ins älteste deutsche Seebad Heiligendamm. Von der Ballustrade des Kempinski Grand Hotel haben Kanzlerin Angela Merkel, George W. Bush und ihre Freunde beim G 8-Gipfel vor einem Jahr in die die Kameras gelächelt.

Rasten wie die Kraniche

Langsam schieben sich zwei Schiffe mit russischer Flagge durch den Warnemünder Seekanal an uns vorbei. Vor den zahlreichen Kneipen spielen russische Musikanten auf und singen schwermütige Lieder. Warnemünde ist ein Stadtteil und gleichzeitig der Seehafen Rostocks. Die wohlhabenden Hansestädter kauften dem chronisch klammen Landesherrn 1323 das linke Warnowufer ab. Die einstige Fischersiedlung musste danach über Jahrhunderte Armut und Bevormundung ertragen. Das änderte sich erst, als wiederum reiche Rostocker Meer und Strand im 19. Jahrhundert als Erholungsgebiet entdeckten.

Die Etappe über die schon erwähnte Halbinsel Fischland-Darß-Zingst zählt zu den Höhepunkten der Tour. Vom Radweg, der meist direkt am Bodden oder am offenen Meer entlang führt, lohnen Abstecher in den „Darßer Urwald“ und zum so genannten „Weststrand“ – zehn Kilometer urwüchsige Meer-Landschaft ohne Straßen und Häuser. Vom Wind entwurzelte Bäume liegen kreuz und quer auf dem Naturstrand. Wasser und Land sind ständig in Bewegung; was das Meer vom Strand abträgt, wird an der Nordspitze der Halbinsel, am Darßer Ort, wieder angespült.

Für eine Pause vom Radeln empfiehlt sich unbedingt das Café „Buhne 12“ in Ahrenshoop. Das „Worpswede der Ostsee“ verdankt diesen Namen den zahlreichen Künstlern und Intellektuellen, die sich ab etwa 1900 in dem vormaligen Fischerdorf niederließen. Der Osten der Halbinsel ist Naturschutzgebiet und für den Autoverkehr komplett gesperrt. Hier finden sich im Herbst Vogelgucker aus aller Welt ein. Sie beobachten zehntausende Kraniche, die sich auf dem Flug nach Norden auf den Salzwiesen noch einmal richtig voll fressen.

Nach einer weiteren landschaftlich schönen und – weil weitab von Straßen – sehr ruhigen Etappe am Bartelshagen Steinriff und Prohner Wiek entlang wird es hinter Stralsund lärmig. Zwischen Stralsund und Greifswald verläuft der Radweg über 30 Kilometer an der viel befahrenen B 96. Hier liegen die Überreste des um 1200 von Zisterzienser-Mönchen gegründeten Klosters Eldena. Zeichnungen und Gemälde von Caspar David Friedrich haben die Ruine weltbekannt gemacht.

Usedom ist das letzte Teilstück. Der Radweg verläuft am Meer, teilweise direkt auf der Abbruchkante der Steilküste, allenfalls verstellt mal eine Buche oder Dünenkiefer den direkten Blick auf die bis zu 100 Meter breiten Strände und die Pommersche Bucht. Usedom hat eine teilweise düstere Geschichte: Das Seebad Zinnowitz galt als eine Speerspitze des „Bäder-Antisemitismus“, der ab dem 19. Jahrhundert weit verbreiteten Ausgrenzung und Diffamierung jüdischer Gäste. Das „Zinnowitz-Lied“ endete mit der Schlusszeile „Fern bleibt der Itz von Zinnowitz.“

Kaiser und Raketen

Nach 1933 verwandelten die Kriegsvorbereitungen Usedom in eine ausgedehnte Festung. Die Nazis errichteten Beobachtungsstände und Funkstationen entlang der Küste, Marineartillerie ging in den Dünen in Stellung, die Mellenthiner Heide wurde zu einem unterirdischen Munitionsdepot. In Peenemünde entstand die Heeresversuchsanstalt und Luftwaffenversuchsstelle, von hier sollten Hitlers Wunderwaffen dem Krieg eine Wende geben. Am 3. Oktober 1942 startete die erste V  2-Rakete. Am 16. und 17. August 1953 machte ein britischer Luftangriff auf Peenemünde dem Spuk ein Ende.

Als Kaiserbäder oder „Badewanne Berlins“ werden Ahlbeck, Heringsdorf und Bansin bezeichnet. Um 1900 hatte Wilhelm II. seiner Mätresse, der Konsulin Steude, am Strand von Heringsdorf eine schlossartige Villa bauen lassen. Auch die kaiserliche Familie selbst kurte mehrfach in diesen Badeorten. Viele der damals errichteten Hotels und Villen wurden seit der Wiedervereinigung komplett restauriert. Die wuchtigen Seebrücken aus Holz, die von der piekfeinen Strandpromenade ins Meer abzweigen, sind die Wahrzeichen der Kaiserbäder. Hinter Alhbeck verläuft die polnische Grenze, der Ostseeküsten-Radweg endet hier.

www.walfischhaus.de www.buhne12.de