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Archiv-Artikel

Weg von den Opferbildern

Zeugnisse vom Alltagsleben der jüdischen Bevölkerung in der norddeutschen Provinz: Der Bildband „Matrosenanzug – Davidstern“ gibt Einblicke ins Familienalbum

Wie die Orgelpfeifen stehen sie aufgereiht: die acht Jungs des Kieler Synagogenchors, fotografiert im Dezember 1930. Um die Schultern tragen sie den weiß-blauen Gebetsschal, auf den Köpfen jedoch statt der Kipa kleine Matrosenmützen – sichtbares Zeichen deutscher Marinebegeisterung, die von Kaisers Zeiten bis in die Weimarer Jahre hineinreichte.

Abgebildet ist das Foto in dem Bildband Matrosenanzug – Davidstern. Die großformatige Dokumentation ist mehr als ein „coffee table book“. Die rund 600 größtenteils unveröffentlichten Aufnahmen, die Gerhard Paul und Bettina Goldberg zusammengetragen und kommentiert haben, stellen ein einzigartiges Zeugnis der jüdischen Kultur im Norddeutschland des letzten Jahrhunderts dar.

In zahlreichen Geschichtsbüchern und anderen Publikationen „werden Juden immer aus der Perspektive der Verfolger gesehen – als Opfer“, sagt Bettina Goldberg, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte der Universität Flensburg. Andere Dokumentationen wirken verklärend in ihrer Konzentration auf die ostjüdische Kultur des Schtetls oder auf das assimilierte jüdische Großbürgertum. Das Alltagsleben der jüdischen Bevölkerung in der deutschen Provinz gerät dagegen nur selten in den Blick.

Genau hierauf wird in Matrosenanzug – Davidstern das Augenmerk gelegt. Der zeitliche Rahmen reicht vom Kaiserreich bis zum Neubeginn jüdischen Lebens nach 1945. Nicht nur die historischen Zeitabschnitte, auch die Geschichten einzelner Familien werden vorgestellt: Einblicke ins Familienalbum. Am beeindruckendsten sind die Bilder, an denen sich die wandelnden Befindlichkeiten ganz direkt ablesen lassen: Die Selbstverständlichkeit, mit der im Ersten Weltkrieg der jüdische Feldgeistliche David Alexander Winter mit dem Davidstern auf der Brust zwischen seinen christlichen Amtsbrüdern Aufstellung nimmt, die bedrückten Mienen von Emigranten vor der erzwungenen Ausreise in der zweiten Hälfte der 30er Jahre und die Erleichterung nach der Ankunft – oder das verwackelte, weil heimlich aufgenommene Bild der im Abbruch befindlichen Kieler Synagoge aus dem Jahr 1939.

Kai-Uwe Scholz

Gerhard Paul, Bettina Goldberg: Matrosenanzug – Davidstern. Bilder jüdischen Lebens aus der Provinz, Wachholtz Verlag, Neumünster 2002, 356 S., 600 Abb., 50 Euro