: Amerikanische Wert-Schätzung
Der idealistische Interventionismus kehrt zurück: Die US-Regierung behauptet, es gehe ihr um die Demokratisierung der arabisch-islamischen Welt und Irak sei der Anfang
In den Vereinigten Staaten wird so gut wie alles, was man irgendwie auszählen kann, in eine Rangliste überführt. Ranking wird Firmen, Produkten, ganzen Volkswirtschaften, vagen Trends, ja selbst Gefühlen und Personen zuteil, über deren Bewertung man bekanntlich streiten kann. Gerankt wurden auch die Präsidenten der USA.
Erstmals 1948 befragte der Historiker Arthur M. Schlesinger für die Zeitschrift Life ein Panel von 55 Kollegen nach ihrem Urteil über alle Herren des Weißen Hauses seit George Washington. Der Gründervater kam auf Platz zwei, hinter Abraham Lincoln und vor Franklin D. Roosevelt. Bei diesem Spitzentrio ist es bis heute im Großen und Ganzen geblieben, trotz John F. Kennedy und Ronald Reagan.
Auf Platz vier folgte seinerzeit Woodrow Wilson, und nachdem der zuletzt etwas zurückgefallen ist, hat er nun Chancen, wieder nach vorn zu kommen. Der von 1913 bis 1921 amtierende Präsident wurde für eine falsch angelegte und gescheiterte Außenpolitik verantwortlich gemacht. Dabei verdanken ihm die USA, nach einer ähnlich raubtierartigen Kapitalakkumulation wie während der letzten Dekade, nicht nur das Kartellrecht, die progressive Einkommensteuer und arbeiter- und farmerfreundliche Sozialgesetze, sondern auch den Sieg über das Deutsche Reich im Ersten Weltkrieg und den Völkerbund. Dem traten die Vereinigten Staaten nach einem ablehnenden Votum des Senats allerdings dann selbst nicht bei.
Wilson hatte an eine internationale Organisation gedacht, die das Selbstbestimmungsrecht der Völker respektiert, nicht an ein Kondominium der Großmächte, zu denen die USA seit dem Weltkrieg gehören. Er wollte echte Kooperation gleichberechtigter Nationen und erhielt dafür den Friedensnobelpreis. Seine Vision stand der Verfolgung egoistischer Ziele nicht im Wege, und daran haben viele Administrationen im 20. Jahrhundert bis hin zu Bush senior und Clinton angeknüpft. Der Historiker Frank Ninkovich sprach gar, nur leicht übertrieben, vom „Jahrhundert Wilsons“.
Neu ist allein die Hinwendung der Republikaner und von Bush junior zu diesem historischen Vorbild. Bush war als realistischer Machtpolitiker angetreten und machte sich lustig über Al Gores Wunsch, dem Rest der Welt die Freiheit und amerikanische Werte bringen zu wollen; auch klima- und entwicklungspolitisch wollte er sich um Besserung kümmern. Der 11. September änderte alles. Der amtierende Präsident greift nun häufig auf das Vokabular Woodrow Wilsons zurück, „die Welt sicher zu machen für die Demokratie“, so bei einer programmatischen Rede vor der Militärakademie West Point.
Damit lieferte Bush die Ideen für einen Feldzug im Irak nach, der nach bisheriger Lesart der unmittelbaren Gefahrenabwehr oder auch nur der Durchsetzung geostrategischer Interessen diente. Amerikanische Truppen sollen Saddam Hussein ausschalten, wie einst Wilson den deutschen Kaiser und später Roosevelt Adolf Hitler besiegte, um damit eine Demokratisierung der arabisch-islamischen Welt einzuleiten, wie sie nach 1945 in Japan, Italien und Westdeutschland gelang.
Zuvor hatte Bush die erheblich bescheideneren Visionen seines Vorgängers Clinton für Haiti und das Kosovo noch als von der Geschichte widerlegten Wilsonianismus abgetan. Doch jüngste Äußerungen auch seiner Führungscrew geben deutliche Hinweise auf ein Revival des idealistischen Internationalismus. Demnach geht es nicht primär um „Blut für Öl“, auch nicht um imperiale Machtentfaltung, sondern um die Erneuerung der amerikanischen Mission und des gerechten Krieges. Das heißt: um die Wiedereinsetzung eines wohlwollenden – und derzeit bitter verkannten – amerikanischen Hegemonen.
Mit diesem Konstrukt soll die amerikanische Politik ihren imperialen Hautgout loswerden. So möchte man Skeptiker in den USA und vor allem in Europa weich klopfen, die sich anlässlich von Fällen wie Jugoslawien oder Ruanda auch von einem prinzipiellen Nein zum Krieg zu einer Bejahung humanitärer Interventionen durchgerungen haben. Was kann man schon sagen gegen die noble Absicht, einen Diktator vom Schlage Saddam Husseins loszuwerden, und was spricht gegen eine demokratische Kettenreaktion von Marokko bis Indonesien, wo ein eklatanter Mangel an Demokratie und Bürgerrechten herrscht? Sind die Tyrannen des 21. Jahrhunderts nicht genauso verabscheuungswürdig wie die totalitären Regime des zwanzigsten?
Die Pax Americana als Voraussetzung demokratischen Friedens in der Welt: Auch in den USA wird dieser militärische Humanismus erheblich angezweifelt. Ginge es tatsächlich primär um die Ermöglichung von Demokratie, dann hat die amerikanische Bündnispolitik (ähnlich wie in den 1980er-Jahren) bereits kläglich versagt. Denn sie stärkte wieder vor allem autoritäre Regime: in Pakistan und Russland eine dubiose Antiterrorkoalition, im rohstoffreichen Zentralasien postsowjetische Autokraten. Auch die Führung in Beijing und das autoritäre Regime in Malaysia müssen sich über amerikanischen Demokratieideale nicht beunruhigen, während in Afghanistan das nation-building der Bundeswehr überlassen und das Terrain den Warlords überlassen bleibt. Mit dem Personenschutz des Präsidenten Karsai wurde indes eine private Sicherheitsfirma aus Virginia betraut.
Schwarze Sheriffs statt Demokratie: Die USA gewähren der betreffenden Region vor allem Militärhilfe, Demokratie ist (wenn überhaupt) für später. Dass nach Lage der Dinge tatsächlich nur der pakistanische Militärherrscher oder das algerische Regime islamistische Parteien daran hindern, per demokratische Wahl ans Ruder zu kommen, verdeutlicht eine andere kapitale Schwäche der amerikanischen Demokratieoffensive: das fehlende Vertrauen der arabischen Massen in die US-Politik.
Das fehlt nicht allein, weil sie von Islamisten aufgehetzt worden sind und die Vereinigten Staaten unverbrüchlich Israel unterstützen, sondern vor allem, weil Amerika selbst diese autoritären Regime und islamistischen Bewegungen als Verbündete gegen die Sowjetunion aufgebaut hat. Sei es in Ägypten, in Saudi-Arabien oder am Golf: Sie unterdrücken die Kräfte der Zivilgesellschaft und treiben die verelendeten Massen der islamistischen Propaganda zu.
Anders als es das amerikanische Feindbild will, sind nicht die arabischen Massen gegen Amerika. In deren Ranking stehen amerikanische Ideale weit oben, nur die konkrete Politik der USA rangiert weit unten. In der arabischen Welt, die Demokratie wahrlich nötig hätte, wird man die idealistische Rhetorik eher als Subtext für die fortgesetzte Unterstützung der arabischen Reaktion und als bloßen Vorwand für neokoloniale Ziele lesen. Einen demokratischen Frieden erzwingt nicht die Pax Americana, diesen Weg erlaubt allein die Rückbesinnung der Hypermacht auf eine multilaterale Politik, wie Woodrow Wilson und andere sie sich einmal als Vereinte Nationen ausgemalt hatten. CLAUS LEGGEWIE