: Krebs leben – und sterben
von PETER TAUTFEST
Es muss im Frühling oder Frühsommer gewesen sein. Wie ich auf die Zahl gekommen bin, weiß ich nicht mehr, aber es war die Sieben: Krähen, Elstern, Tauben, Spatzen, Meisen, Amseln und Drosseln. Das sind die sieben dominanten Vögel dieser Region.
Wie ich auf Drosseln gekommen bin, wo es doch so viele Schwalben am Himmel gibt, weiß ich nicht. Drosseln sind doch auch Zugvögel. Im nahen Park dann vernahm ich manchmal eine Nachtigall. Also muss es noch mehr Vögel geben. Dann aber vergaß ich die Vögel wieder, weil Sorgen mein Leben überschatteten. Erinnern tat ich mich ihrer erst später, irgendwann in diesem Winter. Ich hatte den zweiten Jahrestag der Diagnose überschritten.
So lang lebte ich also schon damit. Vor zwei Jahren war bei mir völlig unerwartet Lungenkrebs diagnostiziert worden. Vor Krebs hatte ich natürlich immer Angst gehabt, vor den typischen Männerkrebsen Prostata- und Darmkrebs. An Lungenkrebs aber habe ich nie gedacht, weil ich nie geraucht habe – höchstens passiv. Und jetzt war ein tennisballgroßer Tumor in der Lunge zu sehen, sogar für den Laien war er erkennbar.
Es gibt verschieden Statistiken der Lebensdauer nach der Diagnose. Das Münchner Tumorzentrum spricht von 56 Wochen, wenn der Krebs behandelt wird, von weniger, wenn er nicht behandelt wird. Andere Statistiken geben eine größere oder geringere Lebensdauer an. Sollte ich stolz auf meine zwei Jahre sein? Als ich den zweiten Jahrestag überschritt, war mir nicht nach Jubel zumute.
Wie es mir geht? Nicht so furchtbar gut. Ich habe drei verschiedene Chemotherapien hinter mir – jede hat ein bisschen genutzt, und alle mussten abgebrochen werden. Weil ich sie nicht vertragen habe oder weil der Tumor trotzdem wuchs oder beides. Ich drohte an den Folgen der Chemotherapie in die Knie zu gehen, nicht am Krebs. Ich habe außerdem zwei Bestrahlungen hinter mir, die beide etwas genutzt haben. Und doch ist mein Hauptproblem im Moment die Luftknappheit. Sie hat in den letzten Wochen dramatisch zugenommen. Ich brauche nur vom Schlaf- ins Badezimmer und zurückzugehen, mein Brustkorb hebt und senkt sich wie bei einem Tier, das um sein Leben gelaufen ist.
Meine Stimmung aber ist nach wie vor relativ gut. Ich war schon niedergeschlagener. Zu den ersten Entdeckungen, die ich gemacht habe, gehört, dass man nicht immer Herr seines Willens ist. Ob man niedergeschlagen ist oder nicht, ist häufig vom Krebs und seiner Beeinträchtigung des Hormonhaushalts abhängig. Es ist nicht damit getan, dem Kranken in aufmunterndem Ton zu sagen: Nimm eine positive Haltung ein, dann wirst du länger leben – vielleicht, vielleicht auch nicht. Häufig können die Kranken keine positive Haltung einnehmen, und das ist dem Krebs oder der Chemotherapie oder beidem geschuldet. Inzwischen gibt es eine englische Metastudie, die – wie könnte es anders sein – umstritten ist: Sie weist nach, dass es keinen Zusammenhang zwischen der Einstellung zum Krebs und dem Verlauf des Krebses gibt. Ob einer also zwei oder drei Jahre überlebt, ist nicht auf die Anstrengungen des Krebspatienten zurückzuführen. Tatsache ist, dass 85 Prozent der Lungenkrebspatienten am Krebs sterben werden.
Seltsamerweise hat diese Studie auf mich eine beruhigende Wirkung: Ich muss mich also nicht anstrengen, positiv zu denken. Der Krebs macht sowieso, was er will. Natürlich gibt es einen Zusammenhang zwischen Einstellung und Krebs, aber der ist viel komplizierter, als die meisten Leute denken. Den, der positiv denkt, mögen Ärzte, Pfleger und die Krankentransporter, den mag seine Familie lieber, und er hat auch eine bessere Lebensqualität als der, der zu Tode betrübt ist.
Bleibt die Frage, ob das Erreichen des zweiten Jahrestages ein Sieg ist. Nein, ein Sieg vielleicht nicht, aber eine Gnade. Und einer Gnade teilhaftig zu werden, gibt einem etwas.
Das vergangene Jahr habe ich damit zugebracht, anderen, neuen Therapien nachzugehen. Eine versucht, den Befehl an die Zelle, sich zu teilen, zu verhindern (Iressa/Herceptin). Bei vielen soll es Wunder gewirkt, bei vielen überhaupt nicht geholfen haben. Mir hat Iressa allein jedenfalls nichts gebracht. Der Krebs ist während der Einnahme geradezu „explodiert“. Erst waren meine Frau und ich so niedergeschlagen, dass wir nicht weiter wussten. Ich bin am Ende meines Lateins, dachte ich. Doch nach etwa einer Woche lichtete es sich um uns.
Dies war der Zeitpunkt, an dem ich wieder an die Vögel dachte. Kaum dass ich Iressa nämlich abgesetzt hatte, ging es mir wider Erwarten besser (wobei ich weiß, dass Gleichzeitigkeit nicht Kausalität bedeutet). Um sechs in der Frühe standen wir also auf und gingen in den Park von Sanssouci. Ich machte lange Spaziergänge, Freiübungen, las in der Kühle des Parks, während Sabine, meine Frau, Streckübungen machte. Und hörte Vögel singen.
Später, als mir das Laufen und das frühe Aufstehen schwerer fielen, legte ich mich ab sechs auf den Balkon in eine Hängematte und beobachtete – Vögel. Meine Frau hatte die Veranda wunderbar bepflanzt. Im Sommer und Herbst sah es dort wie Wildnis aus.
Angeblich ist des Menschen Verhältnis zu wilden Tieren dem zu Engeln ähnlich. Vom Balkon aus konnte man einige von ihnen beobachten. Am aufregendsten war ein Paar Turmfalken, die auf dem Kirchturm gegenüber nisteten, wo sich auch die Krähen wie zur Tagesbesprechung trafen. Die Falken wurden von den Krähen und Schwalben mit einer Heftigkeit angegriffen, die fast Mitleid erregend war – immerhin sind sie doch die Greifvögel.
Die Tauben, die immer hurtig und muskulös durch die Lüfte eilten, kümmerten sich nicht um sie. Und die Elstern haben sechs Junge großgezogen – warum so viele, wo sie doch zu den dominierenden Vogelarten hier gehören, verstehe ich bis heute nicht.
Doch dann begannen sie alle zu verschwinden. Dass da etwas am Himmel war und sich das Blatt wendete, sah ich den Augen meines Bruders an. Ich folgte seinem Blick und sah im Nordwesten hunderte von … Störchen! Ich holte ein Fernglas (damals konnte ich das noch) – und sah tatsächlich Störche, hunderte bestimmt. Die Störche kreisten vielleicht eine halbe Stunde, bevor sie gen Süden abdrehten und ihren langen Flug nach Afrika antraten.
Dann waren die Schwalben vom Himmel gewischt (oder waren es Drosseln?), und die Stare stiegen in Schwärmen auf.
In diese Zeit fiel auch ein aufgeregter Anruf meines Bruders. Es gebe doch ein Medikament, das ich noch nehmen könnte, sagte er. Es sei von einer Gruppe von Wissenschaftlern entwickelt worden, die es an den Bayer-Konzern verkaufen wollten. Hier aber habe man ihnen gesagt, dass sie schon so viel Geld in Interferon gesteckt hatten und eine neue Medikation rein finanziell nicht entwickeln könnten. Also gibt es das Medikament nur in der Veterinärmedizin, und zwar gegen Infektionen.
Meine Frau telefonierte mit dem einzigen Gewährsmann, den mein Bruder uns zu diesem Medikament genannt hatte, einem Rechtsanwalt, den er um vier Ecken kennt. Die einzige Patientin, die dieser Anwalt kannte, war eine Kusine, die selbst nicht angerufen werden wollte. „Was hat Ihr Mann denn zu verlieren?“, fragt der Rechtsanwalt.
„Viel habe ich zu verlieren“, antwortete ich, „sehr viel. Ich habe ordentlich gekämpft. Jetzt will ich nicht mehr. Vom Strecken der Waffen geht eine Beruhigung und ein Seelenfrieden aus.“ Meine Frau nickt stumm. Dass ich die Krankheit zu akzeptieren versuche, hat mir vielleicht die Kraft gegeben, morgens um sechs aufzustehen und entweder in den Park oder die Hängematte zu gehen. Seltsam, dass man selbst im Gespräch mit den engsten Verwandten zeigen muss, dass man gekämpft hat.
Es bleibt die Frage, wie viel Zeit man auf die Erforschung der Krankheit verwendet und wie viel auf das Leben, das einem bleibt, auf die Lebensqualität. Ich weiß, dass manche Menschen mit ihrer Krebserkrankung zum Biologen werden oder zum Arzt, der manchmal in kleinen Dingen mehr weiß als sein Onkologe. Der kann ja nicht alles machen. Wenn der Patient mithilft, kann das nur nützlich sein.
Und doch: Hat man nicht das Recht, auch die ganze Medizin Sache der Mediziner sein zu lassen? Ich habe einmal gelesen, dass jemand, der 80 Prozent seiner Zeit mit der Krankheit verbringt, etwas falsch macht. Die Krankheit nimmt dann einen zu großen Raum ein. Aber 20 Prozent – so viel wird doch im normalen Rahmen liegen …
Ich recherchiere also im Internet einer anderen Therapie nach. Von Combrestatin erfahre ich, dass es aus einer südafrikanischen Weide entwickelt wurde. Anders als andere Mittel zerstört es schon existierende Blutgefäße in Tumoren. Ich fange wieder an zu hoffen. Per E-Mail schreibe ich an verschiedene Stellen. Und erfahre, dass Combrestatin erst in Forschungsanfängen steckt; dass es das Medikament, obwohl in Deutschland Versuche damit gemacht wurden, hier gar nicht gibt; geben tut es das nur in Amerika, England und Australien, und wahrscheinlich komme ich in die Versuche nicht rein, ganz abgesehen davon, dass ich nicht reisen kann …
Das ist es also, was offen zu sein heißt: Man muss in der Lage sein, Niederlagen einzustecken. Es gibt aber eine Grenze dessen, was man an Niederlagen einstecken kann. Jedem, der krebskrank ist, würde ich raten: Vergiss nicht, dass du jetzt lebst. Das Schlimmste ist, dass du die Diagnose um ein, zwei oder mehr Jahre überlebst und nicht weißt, wofür dir diese Zeit geschenkt worden ist.
Wo die Vögel jetzt sind, weiß ich nicht. Es scheint, dass nicht nur die Zugvögel abgereist sind. Auch Krähen, Elstern und Tauben sind nur selten zu sehen. Aber an sonnigen Tagen kommen sie hervor. Deren wünsche ich mir noch so manchen – nicht nur der Tiere wegen.