: Schießplatz Kummersdorf
Ein Streifzug mit einem sachkundigen Führer
von GABRIELE GOETTLE
Unser ganzer gepriesener Fortschritt der Technik, überhaupt die Civilisation, ist der Axt in der Hand des pathologischen Mörders vergleichbar. Albert Einstein (Dezember 1917)
Werner Nietschmann, Werkzeugmacher. 1940 Einschulung i. d. Volksschule i. Berka/Wipper bei Sondershausen, 1948 Beendigung d. Schulzeit, Beginn d. Werkzeugmacherlehre b. d. Elektronikfirma Lindner-Installation, Kabel, Apparate (ab 1949 S.A.G. u. ab 1950 VEB-I.K.A.) i. Sondershausen. 1951 Beendigung d. Lehre m. gutem Abschluss, Gesellenstück: ein sog. Kombinationsschlüssel (Werkzeug, m. d. sich mehrere Funktionen ausführen lassen). Vor d. Wahl, entweder b. d. Schiffswerft Rostock, b. d. Wismut i. Aue od. i. Reparaturwerk Wünsdorf b. Berlin zu arbeiten, Entscheidung f. Wünsdorf (Reparaturwerkstatt f. d. russischen T-34-Panzer). Nach 2 1/2 Jahren Wechsel n. Dabendorf, z. dortigen Funkwerk. Mitarbeit a. automatischen Seenotrufgeber (SOS). Trotz interessanter Tätigkeit 1954 Betriebswechsel wg. polit. Unzufriedenheit als „Parteiloser“. Vorüberg. b. KONSUM a. Kraftfahrer f. 9 Monate. Ab 1955 13 Jahre lang Arbeit b. VEB-Schaltgerüstbau. Sperenberg (d. Betrieb fertigte Schaltanlagen für Kraftwerke u. Umspannwerke), weitere Qualifizierung i. Metallbau u. Ablegung sämtlicher Schweißer-Prüfungen, einige Zeit Brigadier. 1968 Betriebswechsel (aus polit. Gründen) z. mechan. Abt. d. Forstwirtschaft i. Nachbarort Schönefeld. Dort u. a. zuständig f. d. Wartung d. Bremsanlagen a. d. Holztransportern. u. Reparatur d. Ketten (d. h. Kettenglieder feuerschweißen), oder Axt u. Beil „ausziehen“ (im Feuer flachschmieden). Nach Feierabend Leitung eines Fotozirkels mit großzügigem betriebseigenem Fotolabor, als Gegenleistung wurde die Anfertigung v. Porträts d. BESTEN und AKTIVSTEN erwartet, diese wurden dann ausgestellt auf d. „Straße der Besten“ a. 8. Mai oder 7. Oktober. 1974 wiederum Betriebswechsel z. IFA-Autowerke – Ludwigsfelde, dort Arbeit i. sog. RATIO-Mittelbau (wir hatten die Aufgabe, Verbesserungen u. Neuerungen, d. d. „Büro f. Neuererwesen“ z. Realisierung b. uns i. Auftrag gab, herzustellen. Die v. d. Werkzeugmachern angefertigten Teile wurden dann in die Produktionsmaschinen usw. eingebaut. Nach Erkrankung d. Lendenwirbelsäule ab 1986 Arbeit b. d. GWZ (Gebäudewirtschaft Zossen) als Abteilungsleiter e. Betriebsteiles i. Baruth. Am 30. Juni 1991 letzter Arbeitstag, Übergang i. d. vorgez. Rente m. 60 Jahren. Ehrungen, Auszeichnungen, Mitgliedschaften u. ä.: „Goldener Blutstropfen“ (f. 16 Jahre Blutspendens), 4-mal a. Aktivist ausgezeichnet i. versch. Betrieben, für 20-jähr. Tätigkeit a. Schöffe Verleihung e. hohen Auszeichn. a. „Verdienter Schöffe des Volkes der DDR“, 20 Jahre Mitglied d. Freiwilligen Feuerwehr Kummersdorf (zuletzt als Löschmeister), 3 Jahre Vorsitzender e. Grundorganisation d. DRK. Langjähriger Leiter e. „Arbeitsgruppe Modelleisenbahn“, Mitinitiator u. Mitglied d. Bürgerinitiative z. Erforschung d. Geschichte von Kummersdorf-Gut u. d. Museumsvereins. Verfasser e. kl. Schrift „Cummersdorf-Schießplatz“, u. Hersteller d. großen Modells dess. i. Museum. Herr Nietschmann wurde a. 6. Januar 1934 im Dorf Berka a. d. Wipper geboren, er ist verheiratet u. hat 5 Kinder.
An einem sehr schönen und kalten Dezembermorgen des Jahres 2002 fahren wir 50 Kilometer südlich von Berlin auf einer schnurgeraden Straße dahin. Sie führt von Sperenberg nach Kummersdorf-Gut und ist gesäumt von wucherndem Gestrüpp und von Mauern und rostenden Zäunen, hinter denen graue Kasernen und Wohngebäude verfallen. Der Eindruck, lediglich an einem der zahlreichen 1994 von den russischen Truppen verlassenen militärischen Areale vorbeizufahren, täuscht in diesem Fall. Hinter dem verwitterten Mauerwerk erstreckt sich ein fast 30 Millionen Quadratmeter großes geschlossenes militärisches Sperrgebiet mit einer ganz besonderen Geschichte. Hier wurde zwischen 1875 und 1945 unter strengster Geheimhaltung der moderne Krieg experimentell vorbereitet. Ausgestattet mit großzügigen Mitteln und den jeweils neuesten technischen Anlagen, testete man über 70 Jahre lang immer raffiniertere und ausgeklügeltere Vernichtungswaffen. Die innige Zusammenarbeit von Militär, Industrie, Wissenschaftlern und Technikern brachte eine Todesmaschinerie hervor, mit der die Effizienz des Verstümmelns und Zerfetzens von Körpern und das Zertrümmern und Vernichten ganzer Städte, in einem bis dahin undenkbaren Ausmaß gesteigert werden konnte.
Mitten in diesem nun vorübergehend zur Ruhe gekommenen riesigen Areal liegt wie eine vergessene Exklave die ehemalige Heeresarbeitersiedlung des Schießplatzes Kummersdorf-Gut. Heute leben noch 450 Bürger hier. Es gibt einen Sportplatz, ein Wasserwerk, die Freiwillige Feuerwehr, ein geschlossenes Feierabendheim und den Friedhof. Morgens und nachmittags hält ein Bus. Der 1937 fertig gestellte Ort besteht hauptsächlich aus typischen NS-Siedlungshäuschen mit kleinem Grundstück die ringförmig gruppiert sind, dazwischen neuere Eigenheime aus der DDR- und Nachwendezeit. Herr Nietschmann wohnt in einem der Siedlungs-Doppelhäuser, die rechte Hälfte hat er zu DDR-Zeiten als Eigenheim käuflich erworben. Der Vorgarten mit ein paar Obstbäumen und kleinen Beeten ist winterlich karg. Frau Nietschmann, klein, resolut, empfängt uns am überdachten Eingang des Hauses und sagt, wir sollen nur einfach geradeaus ins Wohnzimmer gehen, ihr Mann telefoniere gerade. Er sitzt auf einer mit Zierdeckchen und Kissen geschmückten Couch unter einem Wandbild mit Gebirgslandschaft, blinzelt uns freundlich mit den Augen zu und zeigt mit einladenden Gesten auf die Sessel. „Einen Moment Geduld bitte noch …“ sagt er tröstend und spricht dann weiter ins tragbare Telefon. Das kleine Wohnzimmer hat weiße Rauhfasertapeten und ist mit Geschick eingerichtet. Der Teppichboden ist hell, es gibt eine Schrankwand, ein großes Fernsehgerät, an der Wand ein Pferdebild und eine Sammlung von Zinntellern. Alles wirkt hell, säuberlich und angenehm maßvoll. Herr Nietschmann, fast ebenso klein und resolut wie seine Frau, erhebt sich, ruft Abschiedsfloskeln ins Telefon und drückt uns dann nach alter DDR-Manier freundschaftlich die Hände. Wenig später fahren wir zum Museum im ehemaligen Konsum, einem verwitterten Gebäudekomplex aus der NS-Zeit auf der anderen Seite der Landstraße.
„Das war die ehemalige Textilverkaufsstelle“, sagt Herr Nietschmann, „es gab auch einen Bäcker, Fleischer usw. und unsere Dorfkneipe. Das wurde nach der Wende alles geschlossen und wir, der Bürgerverein Kummersdorf, haben die Räume gemietet. Wir haben uns ja 1990 gegründet um politisch tätig zu werden, um hier sozusagen die Regierungsgewalt in unserer Gemeinde zu übernehmen, und 1994, nachdem die Russen abgezogen wurden aus Deutschland, haben wir uns dann mit der militärisch-historischen Geschichte von Kummersdorf-Gut befasst, die ja bis dahin immerzu der Geheimhaltung unterlag, wir haben Zeitzeugen befragt, Material gesammelt, Akten studiert. Das Ergebnis sehen Sie vor sich.“ Das Museum beherbergt eine kleine Sammlung, die Originalstücke liegen in Vitrinen, an der Wand hängen Lagepläne und alte Fotografien und auch ein gerahmtes Antikriegszitat von Karl Kraus.
Das größte Ausstellungsstück aber ist ein Modell des Schießplatzes im Jahre 1918. Herr Nietschmann hat es in eineinhalbjähriger Bauzeit selbst hergestellt, indem er auf einer sehr großen Platte all die Anlagen, Kanonen, Aufschlagstellen der Geschütze, Wälle, Gräben, Gleise und Züge, Fahrzeuge, Gebäude und Bäume in der Manier einer Spielzeugeisenbahnlandschaft nachgebaut hat. Vorn an der zur besseren Übersicht geneigt befestigten Platte, erlaubt eine beschriftete elektrische Tastenleiste die jeweiligen Objekte aufzurufen, an denen dann ein Lämpchen brennt, solange man die Taste drückt. „Einige sind schon ausgefallen“, sagt Herr Nietschmann und klopft auf die Schaltungen „na ja … also 1873 hatte der Kaiser die Genehmigung gegeben hier in seinen Forsten einen Schießplatz zu errichten, 1875 wurde dann die Strecke der Militäreisenbahn Berlin-Schöneberg–Kummersdorf-Schießplatz eröffnet mit täglich zwei Zügen, das ist sozusagen die Geburtsstunde, und 1882 wurde auf der Schießbahn-Ost das erste Versuchsschießen veranstaltet, 1917 erst wurde dann die 7 1/2 Kilometer lange Schießbahn-West eröffnet. Das Modell hier zeigt übrigens nur einen Ausschnitt des Gesamtgeländes. Weil ich mich nach der Raumgröße hier richten musste, war ich eingeengt, und auch der Maßstab ist nicht so ganz hingekommen. Aber das ist in diesem Fall ja nicht das Wichtige, und das Wichtigste habe ich drauf.“ Er drückt eine Taste, auf der Strecke Schießbahn-Ost glühen die Lämpchen. „Die ist 12,79 Kilometer lang, hier hat man später dann anfangs auch solche großen Geschütze getestet wie den 42-cm-Mörser von Krupp, der im Volksmund ja ‚Dicke Berta‘ hieß, nach Frau Berta Krupp, die hat 14,5 Kilometer weit geschossen, also weit über diese Teststrecke hinaus, die Geschosse wogen 1.000 Kilo, waren so groß wie ein Mensch und schlugen 12 Meter tief in den Boden ein, das muss man sich mal vorstellen; damit wurde im Ersten Weltkrieg u. a. die Festung Lüttich zerstört.“
Das Lämpchen erlischt wieder und Herr Nietschmann macht eine kreisende Handbewegung: „Also hier auf dem Gelände wurde im Laufe der Zeit allerhand getestet, hier haben zum ersten Mal Zeppeline Bomben abgeworfen, hier wurde der deutsche Stahlhelm unter Dauerbeschuss getestet, auch französische und britische Helme wurden 1915 beschossen, im Grunde genommen, wie ich immer sage, wurde hier alles getestet, von der Schuhsohle angefangen bis hin zu den Anfängen des Weltraumfluges. Man hat auf diesem Heeresversuchsgelände alle erdenklichen Waffen und Munitionen geprüft, man hat die Belagerungsartillerie getestet, die Bombensicherheit kasemattierter Anlagen, man hat Schießversuche gegen Gewölbe- und Panzerziele betrieben, Gewölbe und Bunker sprengende Techniken ausprobiert an extra errichteten Testbauwerken, es sind heute noch Überreste davon zu finden. Und nebenher wurden natürlich auch Soldatenstiefel getestet, Autoreifen, Ketten für Panzerfahrzeuge, Feldküchen, Granatwerfer, Kleinbahnen und viel erbeutetes Kriegsgerät. Die Hauptaufgabe war aber das Schießen. Also man hat hier ununterbrochen geschossen, über 100 Jahre lang!! Tag und Nacht. Das kann man auch in dieser Zeitung dort nachlesen, in der werden die schießfreien Tage angegeben. Und das musste ja gemessen werden, man wollte wissen, wie weit lässt es sich mit welchen Treibladungen und Projektilen schießen? Das hat man dann hier mit solchen Messtürmen gemacht wie Sie sie auf dem Modell sehen, wenn Sie mal gucken wollen.“ Er betätigt eine Taste, am Messturm leuchtet ein Lämpchen auf und ein weiteres an der Einschlagstelle, beide Male in Rot, sogar den aufspritzenden Sand hat er modelliert. „Na ja“, sagt er etwas verlegen, „das sind dann so die Details … aber hier habe ich geschummelt, um die Sache ein bisschen attraktiver zu machen, weil mir diese Strecke der Schießbahn zu leer erschien, habe ich die Messtürme da reingeschmuggelt. Die sind aber erst ab den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts aufgestellt worden und das Modell zeigt je eigentlich den Zustand im Jahr 1918 … aber man kann an so einem Modell ja viel machen, man kann ja auch einfach den Zweck darstellen, um den es hier geht.“
Herr Nietschmann tritt zu einer großen Geländekarte an der Wand und sagt vorsichtig: „Eigentlich fallen die 12 Jahre Nazizeit kaum ins Gewicht … denn sehn Se mal, welche Zeitspanne das ist, von 1875 bis heute … Also hier wahrscheinlich, an dieser Stelle, stand die erste Raketenversuchsanlage. Geleitet wurde die Prüfabteilung von Walter Dornberger, der hat die geheime deutsche Raketenforschung bis zum Kriegsende geleitet. 1932 hat er einen Studenten als Mitarbeiter aufgenommen, der hier seine Doktorarbeit geschrieben hat, Wernher von Braun war sein Name. Er machte hier bis 1937 seine Versuche und zog dann mit seinen Mitarbeitern zum Raketenversuchsgelände nach Peenemünde um. Hier ist nur eine kleine Gruppe zurückgeblieben, die weiterhin neue Triebwerke und Treibstoffe gestestet hat, bis auch die zu Kriegsbeginn nach Peenemünde gingen. 1942 haben sie dort ja dann die streng geheime, so genannte Vergeltungswaffe 2, die V 2-Rakete, erfolgreich gestartet.“ Wir erzählen von unserem Besuch im ehemaligen KZ-Dora-Mittelbau vor vielen Jahren, wo genau dokumentiert ist, unter welch barbarischen Bedingungen dort ab 1944 20.000 Häftlinge in unterirdischen Fabrikationsanlagen gezwungen wurden V 2-Rakten für den Kriegseinsatz herzustellen. Die „Deutsche Wunderwaffe“. Herr Nietschmann nickt und sagt: „Wenn Sie Dora kennen, dann sind Sie auch durch Sondershausen gefahren, das ist bloß 20 Kilometer weg, die Ecke dort ist ja meine Heimat, 1944 war ich zehn Jahre alt …“, er wendet sich wieder der Karte zu: „Also wie gesagt, da haben wir das Raketenversuchsgelände … Und hier haben wir noch etwas sehr Interessantes, hier steht der erste Atommeiler in Deutschland! Die Wissenschaftler vom Kaiser-Wilhelm-Institut in Berlin – wo ja auch der Otto Hahn gearbeitet hat, der 1938 die Kernspaltung entdeckte – die kamen auch hier raus in die Atomversuchsstelle Gottow. In den 40er-Jahren wurde dann nur noch daran gearbeitet, die kriegsmäßige Variante der Atomentwicklung und Kettenreaktion voranzutreiben. Es ist aber nicht gelungen, eine Bombe zu bauen …! Die Atomversuchsstelle Gottow wurde 1939 errichtet, ebenso diese Anlage von 14 hochmodernen Laboren, die Chemisch-Physikalische Versuchsstelle Gottow – Gottow nach dem Dorf, das in der Nähe liegt. Das waren Labore für die physikalische und chemische Waffenentwicklung, die hat hier stattgefunden. Die Labore stehen in drei Reihen und waren alle miteinander verbunden … wir werden uns die Reste anschließend anschauen ….“
Man muss sich vergegenwärtigen, dass die Deutschen auf dem Gebiet der Entwicklung tödlicher chemischer Waffen und Nervengase schon im Ersten Weltkrieg eine außergewöhnliche Perfidie und Bösartigkeit an den Tag legten. Verknüpft damit sind nicht nur berüchtigte Namen wie IG-Farben, sondern auch geehrte spätere Nobelpreisträger wie Fritz Haber, der für die Entwicklung der chemischen Kriegsführung zuständig war und persönlich die Giftgasangriffe bei der Schlacht von Ypern und an der Ostfront leitete. Sein Kollege Otto Hahn führte bei der Ypern-Schlacht eine Spezial-Gaseinheit. Auch die deutsche Atomforschung im Zweiten Weltkrieg war keineswegs so harmlos gemeint, wie sie ausgegangen ist. Werner Heisenberg, Nobelpreisträger für Physik, verfasste Anfang der 40er-Jahre ein Gutachten für das Heeres-Waffenamt und stellte in Aussicht, dass eine kontrollierte Kettenreaktion technisch realisierbar sei und Uran ein gewaltiger Sprengstoff. Kurt Diebner, promovierter Physiker, Experte für Kernphysik und Sprengstoffe, war Leiter des Heeres-Waffenamtes und machte Heisenberg zum verantwortlichen wissenschaftlichen Leiter des deutschen Kernspaltungsprojektes. In den Labors verschiedener deutscher Städte forschte man gut dotiert an einer deutschen Atombombe. Auch Kurt Diebner forschte und experimentierte in seinem „Uranofen“ in Kummersdorf, er war nämlich zugleich auch Chef der Versuchsstelle des Heereswaffenamtes in Gottow.
Herr Nietschmann steht hinter der Verkaufstheke, auf der Bücher, Broschüren und Faltblätter zum Thema angeboten werden und schiebt uns zwei Formulare hin: „Das müssen Sie bitte kurz ausfüllen, sonst kommen wir nicht aufs Gelände. Besuche auf diesen Flächen sind ja immer noch verboten, nur im Interesse der Historie dürfen wir vom Verein ausnahmsweise Leute führen, und zum Atommeiler zu gehen ist auch uns verboten worden von oben, weil da angeblich immer noch Strahlung ist, na ja, Sie müssen jedenfalls unterschreiben.“
Wenige Minuten später stehen wir am Schlagbaum eines Torgebäudes, eine ältere Frau vom Wachdienst öffnet nach kurzer Verhandlung – es liegt keine telefonische Anmeldung vor – den Schlagbaum. In engen vergitterten Verschlägen neben der Straße erhebt sich wütendes und halbherziges Gebell. „Das sind die Wachhunde für die Streifengänge, einer davon ist noch von den Russen“, sagt Herr Nietschmann und gibt den Weg an. Die Fahrbahn ist bereits von Unkräutern, die überall durchbrechen, stark angegriffen. Eine hohe, große Kaserne mit Ecktürmchen, 1875 von italienischen Gastarbeitern erbaut, liegt am Wege. Die ehemalige Heeresstandortverwaltung ist grau verputzt, der Putz fällt ab. „Hinter diesen Häusern rechts“, sagt Herr Nietschmann, „ist der Sportplatz, drunter war lange Zeit ein Massengrab, 1945 sind tausende hier bei den Kämpfen umgekommen, inzwischen hat man sie umgebettet. Da drüben war das Lazarett zur damaligen Zeit. Die Russen haben das nicht genutzt hier.“ Wir drehen um, vorbei an der Rückseite des alten Backsteinbahnhofs von 1875 und an einem schön gegliederten schwungvollen Turm mit pickelhaubenförmigem Dach. „Der Wasserturm“, erklärt Herr Nietschmann, „ist 1907 fertig geworden. Er ist 37 Meter hoch, früher konnte man rauf gehen aber im vorigen Jahr haben irgendwelche Bekloppten da drin alles zerstört, 30 Fenster kaputtgemacht. Da hätten wir jetzt einen schönen Rundblick gehabt. Vor uns dort sehen Sie Bad und Sauna, das haben sich die Russen gebaut für die Offiziere … so und hier sind wir jetzt im Zentrum des Schießplatzes, also gebäudemäßig meine ich. Und dort war die so genannte Nulllinie, das heißt, dort stand das Geschütz, von dort aus wurde geschossen und gemessen, das habe ich Ihnen ja auf dem Modell gezeigt. Und dort vorne waren diese Gebäude der Munitionsanstalt – auf der Karte waren sie ja noch zu sehen. Das ist 1943 alles in die Luft geflogen. Eine Woche lang musste man Leute bergen mit Panzern, ein Depot nach dem anderen ist explodiert. Hier wurde ja die Versuchsmunition selbst hergestellt, Leute aus den umliegenden Ortschaften waren hier als Munitionsarbeiter, hauptsächlich Frauen, sie hatten u. a. auch die Aufgabe, die Granatsplitter aus den Versuchen im „Sprenggarten“ zu sortieren und auszuwiegen. Also in der Blütezeit des Schießplatzes, zur Zeit der Machtübernahme war das, da waren etwa 1.700 Menschen hier beschäftigt.“
Herr Nietschmann gibt Fahranweisungen und zeigt nach rechts auf einen ehemaligen Prachtbau aus dem 19. Jahrhundert, er erinnert an ein Kurhaus und wirkt relativ gut erhalten. „Das täuscht, die Scheiben sind kaputt geschlagen, der Stuck kommt runter und das ganze Dach ist hinüber. Das ist der so genannte Kaiserbahnhof bzw. das Offizierskasino. Die Kleinbahn ging ja vor dem Kasino entlang, und immer, wenn vor dem Ersten Weltkrieg ein neues Geschütz getestet wurde, dann kam der Kaiser hierher, das nannte man das ‚Kaiserschießen‘. Hitler war ja auch sehr oft hier mit seinem Stab, sie haben ja das Bild im Museum gesehen, ja? Ein Erinnerungsfoto auf der Treppe des Offizierskasinos und mittendrin – ich glaube als Einziger in Zivil – Wernher von Braun.“ Wir verlassen dieses Gelände und fahren zu den ersten Raketenversuchsständen des besagten Wissenschaftlers. Betonruinen im Unterholz, denen man ihren ehemaligen Zweck kaum noch ansieht. Wir überqueren die 12 Kilometer lange und 250 Meter breite Schießbahn – auf der die „Dicke Berta“ schoss –, sie ist jetzt von Heidekraut und anderen harten Kräutern erobert. Zwischen den beiden Schießbahnen liegt der eh. Raketenprüfstand Nr. 4, das Hauptversuchsgelände. Herr Nietschmann zeigt auf den überwachsenen Schutzwall und die schlanken Birken, die sich überall aus den ehemals hoch geheimen Testanlagen herausarbeiten und den Beton sprengen: „Die Natur holt sich alles zurück“, sagt er eher zufrieden und erklärt, auf die Reste deutend, wie man hier die Triebwerke testete, welcher Feuerschweif entstand, wie man durch das immer noch vorhandene Marienglas der Sehschlitze alles beobachtete. Hier und in den anderen Prüfständen rundum haben sich seit 1964 die russischen Soldaten verewigt, meist durch Einritzen von Name, Datum und Heimatort im Putz, der allmählich in kleinen Schollen abfällt – mitsamt den Namen. Wir fahren durch den lichten Wald, der sich hier überall ausgebreitet hat, teils auf zugefrorenen Wegen mit tiefen Fahrspuren, teils auf Plattenwegen, die plötzlich in tiefen Sand übergehen. „Also hier ist jedes Jahr ein paarmal große Treibjagd, vor gut sechs Wochen waren 150 Jäger unterwegs, aus Deutschland und den angrenzenden Ländern … im vorigen Jahr hat man 97 Stück Wild geschossen, meistens Schweine, aber auch Dammwild, Rehe, Füchse. So, wir sind jetzt an der Versuchsstelle Gottow, wo die physikalischen und chemischen Versuche gemacht wurden.“ Zu sehen sind wiederum bunkerartige Gebilde im Unterholz. „Die vierte Reihe ist von den Russen dazugebaut worden, die hatten das als Munitionsdepot verwendet, so und jetzt fahren wir zum Atommeiler weiter …“
An einem überschwemmten Waldstück entlang gehen wir zu Fuß, über einen Hügel muss man steil hinaufklettern um ins Untergeschoss des ehemaligen Uranmeilers hinunterschauen zu können. Damals hatte es einen Holzaufbau, wie eine Bockwindmühle, für den Fall der Explosion (!) Die Russen benutzten das kleine „Bassin“ dann als Löschwasserbecken. „Wir hatten ja das Hahn-Meitner-Institut hier, und sie haben eine Spur gemessen. Also wenn jetzt, nach knapp 60 Jahren, der Geigerzähler noch reagiert, dann ist eine gewisse Strahlung vorhanden, aber sie haben gesagt, dass man wenigstens 100 Jahre hier stehen müsste, um 1 Bequerel abzukriegen.“ Elisabeth fragt: „Ist das ein Hollunder, der dort unten im ‚Reaktor‘ so schön heranwächst?“ Herr Nietschmann nickt und sagt: „Es ist einer, sogar ein seltener, er ist blau blühend!“ Zum Abschluss fahren wir eine weite Strecke nach Norden, passieren nochmals Schranken und Wachpersonal, bis wir auf verschlungenen Wegen an einem großen, von Wald gesäumten See gelangen. Auf der Wasserfläche spiegelt sich der lachsfarbene Abendhimmel, und die gemauerten Stümpfe der ehemaligen Brückenpfeiler werden von schimmernden Wellen umspült. „Auf diesem Gelände und auf der ehemaligen Brücke über dem See“, sagt Herr Nietschmann, dessen Leidenschaft die Eisenbahn ist, „haben die Eisenbahnpioniere Belastungsproben durchgeführt und Sprengungen … So, das war’s, jetzt habe ich kalte Füße, fahren wir zu mir nach Hause, was Heißes trinken.“ Herr Nietschmann, der sich auf diesem großen, unübersichtlichen Gelände ebenso gut auskennt wie in der Geschichte, stapft mit wehendem Atem vor uns her zum Auto und sagt: „Das Ganze ist übrigens eine Liegenschaft des Bundesvermögensamtes und nennt sich ‚Vorhaltegebiet bis 2030‘ für den eventuellen Großflughafen Schönefeld. Wir wünschen uns aber was anderes; Einmal, dass die historischen Zeugnisse erhalten werden und zum anderen, dass auch die Artenvielfalt von Flora und Fauna erhalten bleibt, die sich hier in der Abgeschlossenheit entwickelt hat. Am liebsten wäre uns eine Verbindung von Militärgeschichts- und Naturlehrpfad.“
Fast fühlt man sich gerettet, von all den modernden, feuchten, klammen Kasernen, Bunkern und Offizierskasinos hierher gefunden zu haben, an einen weihnachtlich gedeckten Tisch. Frau Nietschmann ist unablässig um unsere Bequemlichkeit bemüht, rückt unsere Sessel näher an den Tisch, schenkt Kaffee ein, holt ein selbst gemachtes Adventsgesteck herbei und zündet die Kerzen an. „Das war ein normaler, einfacher Ast aus dem Wald …“, sagt sie und fragt: „Möchten Sie Stollen, oder wollen Sie lieber eine Scheibe Brot essen? Manch einer will lieber Brot …“ Sie lächelt aufmunternd. Herr Nietschmann erzählt, wie geschickt seine Frau sei, sie habe sogar mal einen Verbesserungsvorschlag im Betrieb gemacht, mit dem man einen Arbeitsgang einsparen konnte. „Wir haben 1.000 Mark gekriegt“, sagt sie, und er fügt hinzu: „Das war viel Geld in der DDR, ich habe als gelernter Handwerker 760 Mark brutto bekommen, 660 auf die Hand.“ Wir fragen, was seine Eltern von Beruf waren. Herr Nietschmann kaut, Frau Nietschmann sagt: „Er ist unehelich …“, und er fährt fort: „Meinen Vater kenne ich nicht, meine Mutter war in Stellung, wie man sagte, sie hat immer nur im Dienst anderer gestanden und hatte keinen Beruf. Ich war der Einzige…“ Sie sagt flink: „Eine Fehlzündung!“ Er trinkt einen Schluck und sagt: „Ich bin bei den Großeltern aufgewachsen, mein Großvater war selbstständiger Handwerker, Sattlermeister, also er hatte seinen Betrieb, mit dem konnte er aber die Familie nicht voll ernähren, darum ging er, um dazuzuverdienen, noch auf den Schacht. Kalischacht. Das war bei uns wie hier auch, alle Bauernjungen haben ja auf dem Schießplatz gearbeitet, und viele Frauen auch, wie ich schon sagte, und die haben dann zu Hause ihre Landwirtschaft nebenbei gemacht. Wir hatten ja auch ein bisschen Landwirtschaft, hatten unser Schwein, Hühner, Gänse, Karnickel, und selbstständig hat sich unsere Familie mit Kartoffeln ernährt, also Eigenbau. Und da es bei uns ja Weizen gibt, haben wir unsere Familie auch damit ernähren können. Wir haben z. B. einen Zentner Weizen zur Mühle gebracht und vom Müller dafür zwei Zentner Roggenschrot gekriegt, so war das damals.“
Frau Nietschmann schenkt Kaffee nach und bittet uns, noch Stollen zu nehmen nach dem kalten Tag im Freien. „Arm waren wir eigentlich nicht“, sagt Herr Nietschmann, aber viel leisten konnten wir uns auch nicht. Als Kind hatte ich Pfeil und Bogen, die waren selbst gemacht und einen Holzsäbel – wir haben viel Krieg gespielt – natürlich hatte man keine elektrische Eisenbahn …“ „Die hat er jetzt …“ sagt Frau Nietschmann amüsiert, aber er bleibt eher ernst und erzählt weiter: „Der Großvater hatte nur 54 Mark in der Woche, und ich ging also mit der Milchkanne von Hof zu Hof, von einem Bauern zum anderen, bis die Kanne voll war. Aber das war keine Spende, sondern die Bezahlung dafür, dass der Großvater das kaputte Pferdegeschirr und Kummet repariert hatte. Wir hatten eine ganze Reihe Schuldner, die waren in einem Buch vermerkt. Da gab’s eines Tages am 8. Mai 45 ein furchtbares Eisenbahnunglück mit einem Benzinzug. Wir wohnten gegenüber vom Bahnhof und eine Stunde später war das ganze Haus abgebrannt. Ich hatte nur Sandalen, Hemd und Hose.
Der Großvater war auf Arbeit, die Oma beim Doktor, und mein Cousin war in dem brennenden Haus zurückgeblieben, da habe ich ihn im letzten Moment rausgeholt, die Farbe hatte schon Blasen geworfen im Haus … und da sind dann auch vom Großvater die ganzen Bücher verbrannt, und er wusste nicht mehr genau, wer alles Schulden bei ihm hatte – und die haben natürlich alle gesagt: Ich? Ne, ne! So war das damals … und nun sitze ich hier, bin Rentner und habe wieder mit dem Krieg zu schaffen, diesmal aber freiwillig! Ich bin ja wie gesagt nicht von hier, aber es ist meine zweite Heimat geworden, und da will man dann schon wissen, wo man überhaupt gelebt hat die ganzen Jahre.“ Frau Nietschmann sagt: „Ich bin ja Kummersdorferin…“, und er fügt hinzu: „Ja, mein Schwiegervater war Eisenbahner auf der Jüterbog-Strecke, der hat damals auch die ganzen Gefallenen hier mit beerdigen müssen, die lagen aber schon eine ganze Weile … Wir hatten ja einige Zeitzeugen hier, die wir noch befragen konnten, einige sind inzwischen gestorben. Das meiste an Kenntnissen hat man sich ja selbst beibringen müssen in der Zeit, seit es die Bürgerinitiative und den Museumsverein gibt. Viel Literatur gibt’s ja darüber nicht, Sie werden sehen, weil eben immer alles streng geheim war … ich hoffe, ich habe Ihnen beiden trotzdem was Interessantes zu dieser ganzen Geschichte erzählen können …“ Wir bestätigen das begeistert.
Zum Abschluss zeigt er uns noch seine elektrische Eisenbahn, die in der Waschküche aufgebaut und umrahmt ist von Arbeitsgeräten, auf denen er Verschiedenes bohrt und drechselt für die Bahn oder sein Modell. In der Garage zeigt er uns eine große selbst gebaute Maschine, aus Gusseisen scheint alles zu sein, es ist eine Drehmaschine, glaube ich, jedenfalls sieht sie imposant und wie für die Ewigkeit geschaffen aus. „Na ja“, sagt Herr Nietschmann, ich bin ja Werkzeugmacher …“