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Archiv-Artikel

Dem Reh gebührt die Kugel

Die Population der rotbraunen Waldbewohner ist dermaßen angewachsen, dass sie ganze Schonungen kahl knabbern. Bundesministerin Renate Künast will das Jagdgesetz liberalisieren, was die traditionellen Jagdverbände verärgert

von HEIDE PLATEN

Da standen sie nun in diesem kalten Winter gut sichtbar am helllichten Tag auf den Feldern, zierlich im glitzernden Schnee und allerliebst anzusehen: hungrige Rehe rudelweise. Den Naturschützern ist das rotbraune Viehzeug ein Greuel.

Rehe (Capreolus capreolus) aus der Gattung der Trughirsche sind, sagen die Verbände, denen der Bau von Krötentunneln und Fledermausquartieren ein Herzensanliegen ist, zur Plage geworden. Zwei Millionen knabbern den deutschen Wald zugrunde. Sie sind ein negativer Wirtschaftsfaktor.

In einem Gutachten des Landes Baden-Württemberg steht, dass Rehe 2002 eine Vorliebe für Eichenschößlinge entwickelt haben. 71 Prozent des nachwachsenden Bestandes futterten sie auf, dazu 59 Prozent Tannen- und 32 Buchennachwuchs, dazu Ahorn und Esche. Jährlich lässt sich das auf eine Schadenssumme zwischen 150 und 300 Millionenen Euro hochrechnen. Das sei, schimpft die Arbeitsgemeinschaft Naturnahe Jagd Norddeutschland (ANJN), ein neues „Waldsterben von unten“.

Verkehrte Welt, in der Tier-, Naturschützer und die grüne Agrarministerin Renate Künast das Jagdschutzgesetz ändern, Schonzeit und Winterfütterung abschaffen wollen. So jedenfalls steht es in den Koalitionsvereinbarungen zwischen SPD und Grünen. Währenddessen wollen die Mitglieder des Deutschen Jagdschutz-Verbandes (DJV) einfach nicht ausreichend oft zur Flinte greifen. Denn viele Rehe im Revier garantieren einerseits sichere Erfolge bei Sonntagsjagden, andererseits erhöhen sie die Auswahl für jene Jäger, die es auf die Trophäen abgesehen haben und sich derlei Gehörn, auf kleine Holzplättchen geheftet, an die Wohnzimmerwand hängen.

Und die Lobby der Jäger ist groß und einflussreich. So steht dem negativen Waldwirtschaftsfaktor Reh auch noch die hohe Zahl der Jäger als kaufkräftige Konsumenten gegenüber. Im DJV sind 288.000 Mitglieder organisiert. 340.000 waren es 2001 in der Bundesrepublik insgesamt, die Jagdbedarf einkaufen, die Gastronomie befördern, Tierfutter streuen.

Die Welt ist nicht gerecht. Jäger und Naturschützer geben sich gegenseitig traditionell zum Abschuss frei. Statt das Rotwild ausreichend zu bejagen, behauptete die Bild-Zeitung im vergangenen Jahr, legten die Jäger auf ganz andere Beute an. 250.000 Hauskatzen hätten sie, mangels Wolf, Luchs und anderem Raubzeug, bei einer Gesamtstrecke von vier Millionen Tieren 2002 erlegt. Der Deutsche Jagdschutz-Verband protestierte und schickte dem Blatt einen beleidigten Brief. Nicht er dezimiere die Miezen, sondern ihre Besitzer setzten sie einfach aus. Nicht nur, dass die armen Viecher dadurch leiden müssten, sie richteten „in ihrem Überlebenskampf“ auch noch erheblichen Schaden in der Natur an. Wildernde Hauskatzen und Hunde töteten „Millionen Wildtiere“. Immerhin räumte der Verband ein, dass ungefähr die Hälfte davon Mäuse seien.

Ansonsten wird über die Art des Rehmordes gestritten. Naturnahe Jagdfreunde wollen die heilige Kuh der Waidgerechtigkeit schlachten. Dem Reh, sagen die Traditionalisten, gebühre die Ehre der Kugel. Warum aber nur Hasen und Federvieh durch das schnöde, billigere Schrot sterben sollen, fragt nun ketzerisch die ANJN. Sie ist der Meinung, dass tagsüber sichtbare Rehe eindeutig auf eine Überpopulation hinwiesen. Damit setzte sie sich in Gegensatz zu dem CDU-Jagdexperten Peter Harry Carstensen, der Sonntagsspaziergängern den Anblick äsender Rehe als Naturerlebnis pries.

Der oberste Jäger der Republik, der Prädsident des DJV, Constantin Freiherr Heeremann (66), setzt neuerdings auf die Sympathien der Öffentlichkeit. Die Akzeptanz der Jäger in der Gesellschaft, so Heeremann während einer DJV-Hauptversammlung, sei in den letzten Jahren wieder gestiegen. Eine große Mehrheit der Bevölkerung halte sie für besonders naturliebend und verantwortungsbewusst. Er lenkte im März 2002 ein und unterzeichnete eine gemeinsame Resolution mit Umweltverbänden, die sich dem Naturschutz verpflichtet. Er möchte zwar nicht den Rehen an die Decke, wohl aber erreichen, dass der Schutz für andere Arten wie Kormorane und Krähen gelockert wird. Ein Angriff auf das Jagdgesetz, sagte er, sei auch einer auf das Eigentum.