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Archiv-Artikel

Reif für die Insel

Mit einem „Europagarten“ wenden sich Frankfurt (Oder) und das polnische Słubice nach 50 Jahren wieder der Oder zu. Und üben schon einmal den gemeinsamen Blick in eine schwierige Zukunft

Statt einer Chipfabrik bekommt Frankfurt nun einen Freizeitpark Der polnische Weg in die Zukunft führt vorerst nur über Deutschland

von UWE RADA

Oder Valley ist weit weg. Irgendwo im Südwesten von Frankfurt (Oder), ein paar Kilometer außerhalb des Zentrums, an einer einsamen Autobahnabfahrt, dort wo heute die Adressen der Zukunft sind. Die Adresse von Oder Valley lautet Technologiepark 1. Doch noch ist die Zukunft eine Baustelle. 650 Millionen Euro fehlen für die Fertigstellung der Chipfabrik, mit der sich die verschlafene Grenzstadt über Nacht ins Zentrum der weltweiten Hochtechnologie katapultieren wollte. Auf den Traum aus tausendundeiner Nacht (und den Millionen aus Dubai) folgt wohl bald das böse Erwachen. Die Commerzbank als federführendes Kreditinstitut hat bereits die Suche nach Geldgebern für die fehlenden Millionen eingestellt. Oder Valley scheint tot, bevor es überhaupt gebaut wurde.

Vielleicht ist Oder Valley auch woanders, nicht draußen im Technologiepark, sondern tatsächlich an der Oder, hinter dem alten Halbleiterwerk, in dem zu DDR-Zeiten einmal 8.000 Menschen arbeiteten. Mit einer Zukunft durch Arbeit hat das landschaftliche Oder Valley aber nichts zu tun. Südlich der Stadtbrücke, die Frankfurt mit dem polnischen Słubice verbindet, entsteht auf der Oderinsel Ziegenwerder eine andere Zukunft, eine Art naturbelassener Freizeitpark und ein deutsch-polnischer obendrein. Willkommen im Europagarten.

Schon vor 750 Jahren, als die Siedlung Vrankenvorde die Stadtrechte verliehen bekam, stand die Verbindung über die Oder im Zentrum des Geschehens. An einer selten günstigen Furt gelegen, markierten Fluss und Brücke einen Knoten im Netz der mittelalterlichen Handelswege, und Frankfurt wurde bald schon Mitglied der Hanse. Doch dann kamen der deutsche Überfall auf Polen, die Bomber der Alliierten und die Oder-Neiße-Grenze. Frankfurt wurde von seiner Dammvorstadt getrennt, und obwohl die Oderbrücke nun als „Brücke der Freundschaft“ den Zusammenhalt der sozialistischen „Brudervölker“ behauptete, wandten sich beide Städte voneinander ab und kehrten dem Fluss den Rücken.

Diese Wunde im Stadtraum ist noch heute sichtbar. Während auf der in Nord-Süd-Richtung verlaufenden Karl-Marx-Straße der Verkehr rollt, enden die Seitenstraßen der Magistrale zwischen Kriegsruinen, noch bevor sie das Oderufer erreicht haben.

Das soll sich nun, 58 Jahre nach Kriegsende, ändern. Nachdem das polnische Słubice mit der Nadodrzańska und der Straße des 1. Mai an einem toten Arm der Oder bereits zwei Uferpromenaden gebaut hat, entdecken nun auch die Frankfurter ihren Fluss aufs Neue. Neben dem Ziegenwerder bildet deshalb der Neubau einer Oderpromenade vom Kleistmuseum bis zum Topfmarkt die städtebauliche Ergänzung des Europagartens. Mit Hilfe eines von dem Spaziergangsforscher Bertram Weisshaar entwickelten Wegenetzes sollen Besucher wie Bewohner der Stadt zudem spielerisch den Weg von der Stadtbrücke nach Ziegenwerder und zurück finden. Mit der Fortsetzung des Wegesystems auf der polnischen Seite bis hin zum alten Olympiastadion aus dem Jahre 1936 kann man dann Frankfurt und Słubice wieder als gemeinsamen Stadtraum mit einem deutschen und einem polnischen Stadtteil wahrnehmen. Was andere geteilte Städte wie Guben und Gubin oder Görlitz und Zgorzelec längst begriffen haben, ist nun auch in der Kleiststadt angekommen.

Das ist nicht zuletzt das Verdienst von Moritz van Dülmen. Vor anderthalb Jahren kam der Kulturmanager aus Saarbrücken an die Oder, um das Konzept für den Europagarten zu entwickeln. „Am Anfang war das nicht immer einfach, die Zusammenarbeit zwischen beiden Städten klappte nicht immer so, wie es nötig gewesen wäre“, erinnert sich Dülmen. „Doch nun, da es bald losgeht, werden die Wege immer kürzer.“ Nur noch hundert Tage sind es, bis das 16 Millionen Euro teure Projekt am 9. Mai offiziell eingeweiht wird. Dass der Europagarten, anders als die Frankfurter 750-Jahr-Feiern im Juli oder der Hansetag Ende Mai, keine Show sein wird, die nach ein paar Tagen vorbei ist, sondern eine dauerhafte Veränderung im städtischen und landschaftlichen Gefüge der Stadt, ist van Dülmens erklärtes Ziel. „95 Prozent aller Mittel sind in nachhaltige Maßnahmen geflossen“, sagt er. Auch ohne Chipfabrik kann aus Frankfurt eine blühende Landschaft werden.

Auch wenn vorerst noch die Bagger der Landschaftsbauer auf Ziegenwerder stehen, ist die suggestive Kraft der Oderinsel schon heute erahnbar. Das Freiluftkino mit den Oderauen als Kulisse ist ebenso fertig wie das Heckentheater in der Inselmitte und ein von der Kulturinsel Einsiedel entworfener Spielplatz. Auf Ziegenwerder wird unter van Dülmens Regie keine klassische Gartenschau entstehen, die die Frankfurter Politik zunächst gewollt hatte, sondern ein naturnaher Kulturraum, der vielerlei offen lässt.

Mit dem absehbaren Aus für die Chipfabrik beendet Frankfurt nicht nur seine Geschichte als Industriestandort, sondern auch die seiner industriellen Freizeitgestaltung, wie sie noch bei der Privatisierung des Helene-sees im Süden der Stadt Pate stand. Ziegenwerder dagegen ist mit seinen Bruchwäldern ein erstes Bild einer nachindustriellen Zukunft, deren einzelne Bestandteile gerade in der Grenzregion immer deutlicher sichtbar werden.

Trotz der Gründung der Europa-Universität Viadrina sind auch aus Frankfurt in den vergangenen zehn Jahren die Jungen und gut Ausgebildeten abgewandert. Von ehemals 87.000 Einwohnern sind 18.000 gegangen. Und wenn demnächst der Traum von der Chipfabrik auch offiziell geplatzt sein wird, schwindet eine Hoffnung, die in den vergangenen zwei Jahren beinahe schon religiösen Charakter angenommen hatte.

Es sind solche Szenarien, die den Soziologen Wolfgang Engler bereits vor einiger Zeit zum utopischen Schwärmer werden ließen. Warum nicht aus Ostdeutschland einen Nationalpark machen?, fragte Engler in einem „Friede den Landschaften“ betitelten Plädoyer in der FAZ. „Statt den Westen sklavisch nachzuahmen, könnte der Osten sein Alter Ego werden, Ruhe und Regenerationsraum, und ihm dadurch unschätzbare Dienste leisten“, lautet Englers Vorschlag für die „Auswanderungsgesellschaft“ Ostdeutschland, die den Anschluss an die Entwicklung im Westen auch nicht mehr mit milliardenschweren Wirtschaftshilfen schaffen werde.

Anders als der Frankfurter Oberbürgermeister Martin Patzelt scheut der Westimport van Dülmen solche Szenarien nicht. „Projekte wie der Europagarten sind auch immer intellektuelle Herausforderungen“, freut er sich, „gerade in einer Gegend wie dieser.“

In der Tat könnte der Europagarten bald schon zum Experimentierfeld und Versuchslabor der Grenzregion und darüber hinaus werden. Wie lebt es sich in einer Industriestadt am Ende der Industrie? Was bedeutet Europa jenseits offiziöser Freundschaftsbekundungen? Woran klammern sich die, die die Flucht in den Westen nicht geschafft haben? Wie setzt sich, neben dem ökonomischen und landschaftlichen, das mentale Gefüge der Grenzregion zusammen?

Solchen und anderen Fragen stellt man sich derzeit nirgendwo so intensiv und anspruchsvoll wie zwischen Stettin und Görlitz. Das gilt auch für die an Oder und Neiße so wichtige Frage nach den zukünftigen Identitäten. „Wenn sich die Abwanderung bis zur Überschreitung eines kritischen Punktes beschleunigt“, warnte der Soziologe Jörg Dürrschmidt unlängst bei einer Szenarienkonferenz in Görlitz und Zgorzelec, drohe aus dem Grenzgebiet eine „wild zone“ zu werden, inklusive der Gründung von „Bürgerwehren und der Kontrolle von ethnisch definierten ‚defense spaces‘ “.

Keine guten Aussichten also, zumal für Frankfurt (Oder) und Słubice, wo Studenten und Künstler bislang die einzigen waren, die eine nennenswerte grenzüberschreitende Begegnungskultur entwickelt haben. Für den Großteil der Bevölkerungen beschränken sich die grenzüberschreitenden Kontakte dagegen noch immer auf das ökonomisch Notwendige. Eine Begegnung auf Augenhöhe ist ebenso wenig in Sicht wie eine grenzüberschreitende, regionale Identität, wie es sie zum Beispiel an der deutsch-niederländischen Grenze gibt. Ins fragile Gefüge der deutsch-polnischen Beziehungen können sich jederzeit wieder nationale Untertöne einschleichen.

Vor diesem Hintergrund ist der Europagarten in Frankfurt und Słubice auch ein Lackmustest für eine Grenzregion, die mit dem polnischen EU-Beitritt weniger in die Mitte als vielmehr noch weiter an den Rand geraten könnte. Wenn es sich von Mai bis Oktober dieses Jahres herausstellen sollte, dass die deutschen wie auch die polnische Bewohner Ziegenwerder gemeinsam in Besitz nehmen, hätten Frankfurt und Słubice den düsteren Zukunftsbildern zumindest einen optimistischen Farbtupfer hinzugefügt. Und sie hätten den Beweis angetreten, dass eine grenzüberschreitende Identität nicht zwangsläufig von wirtschaftlichem Aufschwung abhängig ist. Genauso wenig wie die Ethnisierung sozialer Konflikte die einzige Überlebensstrategie in einer „wild zone“ sein muss.

Bis dahin ist es allerdings noch ein weiter Weg. Stolpersteine gibt es zur Genüge, auch auf Ziegenwerder selbst, wo die Landschaftsplaner die Insel in einen westlichen und einen östlichen Teil getrennt und damit tief in die Klischeekiste gegriffen haben: der westliche Teil als Kultur-, und der östliche als Naturlandschaft.

Hinzu kommt, dass dem sprichwörtlichen Brückenschlag noch immer die Brücke fehlt. Ziegenwerder nämlich liegt, rein hoheitlich, auf deutschem Grund und Boden. Zwar hatte das Team um Moritz van Dülmen anfänglich geplant, die Insel auch von polnischer Seite aus zugänglich zu machen. Doch das wäre rechtlich nichts anderes gewesen als der Bau eines neuen Grenzübergangs. Auch wenn nun bei bestimmten Events ein zumindest temporärer Übergang geschaffen werden soll, steht doch fest: Bis zur endgültigen Öffnung der Grenze führt der Słubicer Weg in eine gemeinsame Zukunft über Deutschland.

Ob die Słubicer diesen Weg nehmen werden, ist deshalb nicht nur für den Spaziergangsforscher Bertram Weisshaar die alles entscheidende Frage. Zweifel sind zumindest angebracht. Am Stadtjubiläum von Frankfurt wollte sich die polnische Seite nicht beteiligen. Zur Begründung hieß es, Słubice sei schließlich keine Vorstadt von Frankfurt mehr, sondern eine eigenständige, eine polnische Stadt. Und die wird in diesem Jahr nicht 750, sondern erst 58 Jahre alt.