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Archiv-Artikel

In Jodies Himmel

Das Kinderfilmfest zeigt Beiträge aus aller Welt. Nur in Deutschland fürchten die Verleiher und Produzenten das Nachmittagsprogramm

von THOMAS WINKLER

Man hat es nicht leicht als Leiter des Kinderfilmfestes der Berlinale: Einerseits steht man dem bedeutendsten Festival seiner Art weltweit vor, andererseits wird man von den anderen Sektionen gerne an den Rand der öffentlichen Aufmerksamkeit gedrängt; man bedient ein Publikum, das vom Vorschulalter bis in die Volljährigkeit reicht und so kaum heterogener sein könnte; man kämpft gegen mediale Vorurteile, der Kindergarten der Berlinale zu sei – und zugleich gegen die Angst von Produzenten, ihr Produkt könnte als Kinderfilm eingestuft und so im normalen Verleihgeschäft marginalisiert werden.

Zu den üblichen Verrenkungen kommt für Thomas Hailer bei seinen ersten Filmfestspielen ein weiterer Spagat. Einerseits muss der neue Kinderfilmfestchef Errungenschaften wahren, die Renate Zylla geschaffen hat, andererseits so überzeugend den neuen Besen geben, dass der wenig ruhmreiche Abgang seiner Vorgängerin zumindest nachträglich Sinn ergibt.

Zylla hat im vergangenen Sommer nach 16 Jahren Amtszeit überraschend die Brocken hingeworfen. Über die Gründe durfte spekuliert werden. Von inhaltlichen Differenzen zwischen ihr und dem neuen Berlinale-Leiter Dieter Kosslick war in der Presse die Rede, von vorgesehenen Budgetkürzungen für das Kinderfilmfest. Nichts davon sei wahr, sagt Zylla heute: „Wir haben keine inhaltlichen Differenzen diskutiert, wir haben überhaupt nicht diskutiert.“ Bitten um Gespräche seien nicht beantwortet, Termine kurzfristig abgesagt worden, „Nichtkommunikation“ habe geherrscht. Sie unterstellt Kosslick „eine Taktik, um mich loszuwerden“, und zog schließlich die Konsequenzen nachdem es nicht einmal zu Verhandlungen über eine Verlängerung ihres Vertrages gekommen war. Nahezu zeitgleich hatte Wolfgang Jacobsen, der Leiter der Retrospektive, denselben Schritt vollzogen.

So stand das Kinderfilmfest mitten im Sommer, wenn längst die Vorbereitungen für das nächste Programm im Gange sind, ohne Leitung da. Kosslick engagierte den 43-jährigen Hailer, einen Dramaturgen und ehemaligen Off-Theater-Aktivisten, der als Drehbuchberater für das Kuratorium junger deutscher Film und Mitglied des BKM-Auswahlgremium vielfältige Erfahrungen in der Branche sammeln konnte.

Hailer müht sich, die Leistungen seiner Vorgängerin ausreichend zu würdigen, spricht von einer „blitzsauberen Struktur“, die er übernehmen durfte, vom „guten Ruf“ des „tollen Festivals“. Andererseits aber hat er „ein paar wilde Sachen“ geplant, und trotz einer nur wenig mehr als 100 Tage währenden Amtszeit schon einiges verändert. So wurde eine vierköpfige Auswahlkommission installiert, die sich nun zusammen mit dem Leiter durch die grob geschätzt 200 Filme jährlich wühlt, die dem Kinderfilmfest angeboten werden. Die bewährte und für Medienaufmerksamkeit sorgende Kinderjury wird beibehalten, das Fachgespräch über branchenspezifische Probleme allerdings wird ersetzt durch ein Publikumsgespräch zwischen einer Fachjury und den minderjährigen Nachwuchsjournalisten, die auch die Website des Kinderfilmfestes gestalten. „Schließlich“, sagt Hailer, „ist die Medienkompetenz unserer Zielgruppe mittlerweile teilweise höher als die Medienkompetenz derer, die Filme für sie machen.“

So setzt auch das diesjährige Kinderfilmfest die inzwischen fest verankerte Tradition fort, sowohl Filme für Kinder als auch Filme über Kinder zu präsentieren. Das Spektrum reicht von der für Kindergartenkinder geeigneten Klamotte „Pelle, das Polizeiauto“ über den eher harmlos-hysterischen Spaß „Hotel Hibiscus“ aus Japan oder „Lost Heaven“, eine nahezu klassische Coming-of-Age-Geschichte mit Jodie Foster in einer Nebenrolle, bis zu einem Film wie „Carols Reise“, der aus dem Blickwinkel eines pubertierenden Mädchens vom spanischen Bürgerkrieg erzählt.

Überall in der Welt glaubt man auch Kindern Politik zumuten zu können: In den beiden Beiträgen aus Israel werden gar exemplarisch die beiden drängenden Konflikte verhandelt, die den Staat Israel zu zerreißen drohen. „Unter Wasser“ erzählt von der 14-jährigen Michal, die wieder Kontakt aufnimmt zu ihrem Vater, der die Familie zehn Jahre zuvor verlassen hat, um ganz sein orthodoxes Judentum zu leben. In ihren Reibereien spiegeln sich die Konflikte zwischen dem säkularen Staat und den privilegierten Orthodoxen. In „Miss Entebbe“ kidnappen während der Entebbe-Flugzeugentführung von 1976 drei Kinder eher durch Zufall einen palästinensischen Jungen. Wie in einem Miniaturtheater spielen die Kinder Vorurteile und Ängste, Drohgebärden und Eskalationsmechanismen der Erwachsenen nach.

Vor allem die skandinavischen Länder sind stark vertreten. Sechs der 14 Langfilme kommen aus dem Norden. Hailer fällt in das Klagelied ein, das seine Vorgängerin 16 Jahre lang sang. In Deutschland für Minderjährige Filme zu machen ist weniger Aufgabe als Strafe: „Der Kameramann, der seinen Kollegen beim Stammtisch erzählt, er macht jetzt einen Kinderfilm, der bekommt Kondolenzschreiben.“ Im Gegensatz dazu trudeln bei der Festivalleitung „aus jedem Land, aus dem wir einen Film annehmen, begeisterte Faxe ein: We are thrilled to be part of the Kinderfilmfest.“

Dank „Der zehnte Sommer“, Jörg Grünlers Reminiszenz an Sommerferien in den 60er-Jahren, ist das Programm zwar nicht ganz ohne deutschen Beitrag. Aber immer noch fürchten die deutschen Produzenten und Verleiher das Kinderfilmetikett und die damit einhergehende Verbannung in die Nachmittagsschienen der Kinos – und „das kann man ihnen auch nicht verübeln“, so Hailer. Die neueste Kästner-Verfilmung „Das fliegende Klassenzimmer“ signalisierte denn auch nie Interesse, Teil des Kinderfilmfestprogramms zu werden.

Die Kinderfilmkultur, sagt Hailer, „ist ein Indikator, was einer Gesellschaft ihre Kinder wert sind. Wir haben eine lange Tradition von Schwarzpädagogik, hierzulande wird Kindheit allzu oft als Krankheit gesehen, die es zu überwinden gilt.“ Solche Sätze klingen wie Samples aus den Klagen von Hailers Vorgängerin und sind doch immer noch wahr. Manche Kontinuität ist halt leider allzu leicht zu wahren.