: Endstation Moskau
„Neulich in Belgien“ von Christophe van Rompaey ist eine proletarische Romanze
Der internationale Titel dieses Films lautet „Moscow, Belgium“ und ist natürlich eine Anspielung auf „Paris, Texas“. Zudem rollt auch noch eine Straßenbahn mit dem Fahrziel „Moscou“ durch das Bild - genau wie es in New Orleans ja tatsächlich jene „Endstation Sehnsucht“ gibt, nach der Tennessee Williams sein „A Streetcar named Desire“ benannte. Christophe van Rompaey weiß ganz genau, wie er die Kuriosität symbolisch aufladen kann, dass eines der Arbeiterviertel am Stadtrand von Gent „Moscou“ genannt wird, weil dort 1814 russische Kosaken im Kampf gegen Napoleon stationiert waren. Und seine flämischen Moskauer sehnen sich natürlich heraus aus dieser tristen Siedlung, auch wenn sie vergleichsweise idyllisch wirkt.
Dabei ist dies kein heruntergekommener Stadtteil mit willkürlicher Gewalt zwischen den Plattenbauten, sondern eine im Grunde erstaunlich intakte Wohnlandschaft, in der die 42jährige Matty ruhigen Gewissens ihre Kinder draußen spielen lassen kann, und die größte Gefahr noch auf dem Parkplatz des Supermarkts lauert, denn beim Zurücksetzen donnert ihr ein Laster an den Kofferraum. „Meet cute“ heißt solch eine Begegnung im Fachjargon der Drehbuchschreiber Hollywoods. Es ist die erste „niedliche Begegnung“ eines zukünftigen Liebespaares, und sollte einen möglichst großen Kontrast zur folgenden Romanze bilden. Und so beschimpfen sich Matty und der Fernfahrer Johnny dermaßen saftig, dass hier die Synchronisation zum ersten und nicht zum letzten Mal die weiße Fahne schwenken muss.
„Neulich in Belgien“ war ein großer Publikumserfolg bei den diesjährigen Filmfestspielen in Cannes, weil van Rompaey in seinem Debüt ein zugleich authentisches und liebenswertes Porträt der in Moscou lebenden und arbeitenden Menschen gelungen ist. Der Drehbuchschreiber Jean-Claude Van Rijckeghem und die Schauspieler kommen alle aus der Gegend, und deshalb trifft der Film genau den Ton dieses Milieus, zu dem natürlich auch der örtliche Dialekt zählt. In der deutschen Fassung, die nun in die Programmkinos kommt, fehlt diese Ebene zwangsläufig, und umso überraschender ist es, dass sie trotzdem noch funktioniert.
Dabei wird hier im Grunde die ewig gleiche Dreiecks-Geschichte erzählt. Der 29jährige Johnny verliebt sich in die viel ältere Matty, die lässt sich nach einigem Widerstand erobern, aber plötzlich steht ihr Mann, ein Zeichenlehrer, der sie für eine seiner Studentinnen verlassen hat, wieder vor der Tür und will zurück zu seiner Familie. Mattys drei Kinder sind oft vernünftiger als die Erwachsenen, und die 17jährigen Vera hat ein paar von den besten Sätzen des Films.
Die Küche ist nicht umsonst der zentrale Spielort des Films - nebenbei bekommt man auch einen Eindruck davon, was so in flämischen Haushalten auf den Tisch kommt. Und die schon leicht angebrannte Blutwurst macht schließlich auch deutlich, warum diese Allerweltsgeschichte das Kinopublikum so begeistern kann. Man glaubt diesem Film einfach jedes Bild, jedes Wort, jede Emotion.
Weil sich van Rompaey nie über seine Figuren erhebt, und mit viel Zärtlichkeit und trockenem Humor ihre Träume ernstnimmt, setzt man sich gerne mit an den Esstisch in Moskau, Belgien. So sind Johnnys Fahrten mit dem Laster nach Italien kleine Fluchten, die eine Ahnung von der großen weiten Welt. Bis zum Schluss bleibt es spannend, denn kann Matti wirklich mit einem Mann glücklich werden, dem seine Mutter noch die Hemden wäscht?
WILFRIED HIPPEN