: Geburtshelfer in Kreißsaal
Wunde ist Wunde: „Gangs of New York“ von Martin Scorsese, der Berlinale-Abschlussfilm, verwies vor seiner Premiere auf Größeres. Dann überraschte er durch seine Oberflächen, seine Körperlichkeit
von JAN DISTELMEYER
Filme dieser Größenordnung schicken eine Art multimedialen Vorfilm voraus. Ob nun John R. R. Tolkien oder Martin Scorsese – alle möglichen Kanäle sind zu nutzen, um auf den Punkt genau die Präsenz eines Blockbusters zwischen Gewissheit und Neugier auszutarieren. Wir müssen wissen, dass der neue Scorsese auch der neue DiCaprio ist und außerdem noch viel mehr.
Dieses Promotionprinzip vom „The Making of …“-Terror bis zu den Star-News ist so sehr Teil unserer Alltagskultur, dass einer Blockbuster-Kritik eigentlich eine Vorbereitungskritik vorangehen müsste. Was verbirgt sich hinter einem Wort wie „lang erwartet“? Genauer: Welche Bilder sind denen vorausgegangen, die morgen Abend als Martin Scorseses „Gangs of New York“ den Abschluss der Berlinale bilden werden? Die Geschichte dieses Vorfilms, der sich passend zur hiesigen Scorsese-Fangemeinde in den großen Feuilletons abgespielt hat, handelt in jeder Beziehung von Kämpfen mit Symbolcharakter.
Seit der ursprünglich angesetzten Premiere für den Dezember 2001 wurden die Verzögerungen des Filmstarts immer wieder mit Spiegelbildern dessen begründet, wovon „Gangs of New York“ handelt. So wie die Adaption von Herbert Asburys Oral-History-Klassiker aus dem Jahre 1928 von Straßenkämpfen rivalisierender Gangs in New York erzählt, von den damit zusammenhängenden Draft-Riots im Juli 1863 und deren nationaler Bedeutung im Sinne des Slogans „America was born in the streets“, so wurde auch von der Filmproduktion als einem einzigen Kampf berichtet. Ein „Showdown auf Raten“ (Der Spiegel), ausgefochten zwischen Martin Scorsese und dem Produzenten und Miramax-Chef Harvey Weinstein. Während der 147 Drehtage in den Kulissen der legendären Cinecittà-Studios von Rom war das teuerste Projekt der Miramax-Geschichte von 80 Millionen auf 115 Millionen Dollar angewachsen. Und angeblich habe „Gangs of New York“ nur dank finanzieller Unterstützung seines Stars Leonardo DiCaprio fertig gestellt werden können.
Sogar Tom Cruise soll beigesprungen sein, den tobenden Weinstein zum Bau einer weiteren Kulissenkathedrale (fortan St. Thomas genannt) zu überreden. Ganz zu schweigen von den späteren Streitereien um die erste Schnittfassung von fast vier Stunden: „Gerüchten zufolge“, kolportierte die Neue Zürcher Zeitung, „soll es zwischen Weinstein und Scorsese Szenen gegeben haben, die an Gewalt den Auseinandersetzungen zwischen Amsterdam Vallone und Bill Cutting nur unwesentlich nachstanden.“
Besagte Hauptfiguren, gespielt von DiCaprio und Daniel Day-Lewis, schlitzen sich übrigens mit Messern auf, bis einer von ihnen schließlich sein Leben lässt. Der hermeneutische Zirkel war geschlossen und der Kampf um die Macht in den New Yorker Straßen sinnig in den „Krieg der Kosten“ (taz) überführt – in die Schlacht des „Regie-Altmeisters“ (NZZ) gegen „Harvey Scissorhands“ (SZ), den „Paten der New Yorker Glitzokratie“ (Spiegel). Kunst gegen Knete, Teil XXX: Auf dem Spiel stand „sein Mammutwerk“ (TV-Spielfilm), das durch die beharrlich kommentierten Verschiebungen erst zum „Gespenst“ (SZ) mutierte, bevor die Premiere in den USA erst mal alle Zweifel ausräumte: Nach „sich über drei Jahre hinziehenden Geburtswehen der Produktion“ (FAZ) mache ein „biblisches Epos voller Kampf und Gewalt“ (NZZ) das „Kino als Kreißsaal“ (SZ) erfahrbar und uns zu Zeugen der „gewalttätigen Geburt der Nation“ (FAZ).
Kampf, Blut, Geburt: Um diese Begriffe ist die Vorfilm-Dramaturgie zu „Gangs of New York“ organisiert, der immer schon mehr ist und sein soll als ein Film. „Ein Inferno, inspiriert von Dante und Hieronymus Bosch“ (SZ) und „nichts weniger als die Schöpfungsgeschichte New Yorks“ (NZZ). Von diesem Punkt wächst der eh schon gewaltige Bedeutungsturm weiter. New York ist nie nur New York, sondern ebenso schon Ewigkeiten vor dem 11. 9. ein Sinnbild der USA, und ein Film über seine Entstehung auch ein Film über das Werden dieses Staates. Der Fall des WTC muss auf der Leinwand gar nicht mehr vorkommen, er ist längst ein Schwerpunkt des Diskurses um Scorseses Film.
Es gibt kein Entkommen vor dem Symbolischen. Alles in und um „Gangs of New York“ verweist bereits vor seiner Premiere auf etwas Größeres, und wer den Prozess verfolgt hat, trägt ihn mit ins Kino. Dort angekommen könnte die vielleicht größte Überraschung dieses Films darin bestehen, dass dem ausgestellt Zeichenhaften von Anfang bis Ende eine Perspektive gegenübersteht, die immer wieder auf Oberflächen und eine harte Körperlichkeit zurückgeworfen wird. Trotz aller Symbolik, von der sich „Gangs of New York“ auch durch unseren Blick nie befreien wird, ist hier eine Wunde zunächst nichts anderes als eine Wunde. Das Töten gibt keinen höheren Sinn, dafür sind wir zuständig.
Morgen, 18.30 Uhr, Berlinale Palast, am 16. 2., 11.30 Uhr, Royal Palast