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Archiv-Artikel

Kinder zurück auf die Straße

Kita in St. Georg fürchtet Halbierung: Nur jedes dritte Kind behält den Ganztagsplatz. Hamburger Gewerkschaft ver.di übt Selbstkritik: Ihre frühere Zustimmung zur Kita-Card basierte auf dem Irrglauben, die Elternmacht würde dadurch gestärkt

„Das Essen in der Kita ist für viele Kinder die einzige warme Mahlzeit“

von KAIJA KUTTER

Der Jugendausschuss der Bürgerschaft hat das Kita-Gutscheinsystem durchgewunken. Dazu gehört eine „Globalrichtlinie“ mit einer Fülle von Details, die Hamburgs Eltern das Leben noch schwerer machen. So wird Müttern, die weniger als 20 Stunden pro Woche arbeiten, der Anspruch auf einen ausreichenden Kita-Platz streitig gemacht.

So wiederfuhr es Nikol Pünjer (30) aus St. Georg. Weil sie drei Mal in der Woche für fünf Stunden in einem Inkassobüro um die Ecke arbeitet, beantragte sie für ihre beiden Kinder (3 und 5) die Betreuung in der evangelischen Kita in der Stiftstraße. Eigentlich müsste sie diese nach den bisher publizierten Informationen auch bekommen, und zwar in Höhe von täglich sechs Stunden. Doch der Sachbearbeiter im Bezirk Mitte lehnte ab, und das Kleingedruckte in der Globalrichtlinie gibt ihm Recht.

So heißt es dort unter Punkt 3 Absatz 3, soweit der Betreuungsbedarf pro Tag erheblich vom „Durchschnitt“ der Wochenarbeitszeit abweiche, solle die „nach oben abweichende“ Zeit durch eine Tagesmutter abgedeckt werden. Sprich: Frau Pünjer wird veranschlagt, als würde sie drei Stunden täglich arbeiten. „Der hat gesagt, ich bekomme nur 4-Stunden-Plätze und für den Rest soll ich mir eine Tagesmutter suchen“, berichtet Nikol Pünjer. Dies, so habe man ihr gesagt, treffe für alle Mütter zu, die weniger als 20 Stunden pro Woche arbeiten. Diese Zahl wird in den Globalrichtlinien nicht erwähnt. Im Gegenteil, für den Fall, dass es keine Tagesmutter gibt, wird doch der Kita-Platz in Aussicht gestellt.

Kita-Leiterin Birgit Korn kann über all diese kleinliche Rechnerei nur den Kopf schütteln. Sie werde über kurz oder lang ihre Kita im sozialen Brennpunkt St. Georg kaputtmachen. „Wir haben 75 Prozent ausländische Kinder aus zwölf Nationen. Deren Mütter haben durchweg Mini-Jobs“, sagt die Pädagogin. Infolge des strengen Bewilligungssystems würden nun zwei Drittel aller Ganztagsplätze abgebaut. Das Kriterium Sprachförderung greife nur noch für eine Minderheit, die Tatsache, dass Kinder in St. Georg nicht auf der Straße spielen können, spielt ebenfalls keine Rolle mehr. Die Folge: Von den 20 Hortkindern kann nur die Hälfte bleiben. Von 42 Vorschulkindern wird die Mehrzahl auf die kurze Vormittagsbetreuung zurückgestuft, was Stundenreduzierungen für die Erzieherinnen zur Folge hat. Korn: „Wir werden flexibel reagieren. Aber ernähren können sich die Erzieherinnen dann nicht mehr unbedingt von ihrem Job.“

„Der Beruf Erzieher ist in Hamburg nicht mehr erstrebenswert“, sagt Angelika Detsch von der Gewerkschaft ver.di. Sie kritisierte den Kita-Kompromiss, den die Wohlfahrtsverbände mit dem Senat geschlossen haben, und die anschließend verkündete Gnadenfrist für alle Kita-Kinder bis Jahresende. „Wir fragen uns, was kommt danach. Ich fürchte, dass ganz viele Ganztagsplätze über den Deister gehen“, sagt ver.di-Sekretär Jens Waubke. Dies bedeute einen Verlust an sozialer Wohlfahrt. Waubke: „Das Essen in der Kita ist für viele Kinder die einzige warme Mahlzeit.“

Die ver.di-Kritik kommt spät. „Wir hatten die Kita-Card-Pläne vorsichtig begrüßt“, erinnert Waubke: „Wir waren dem Irrglauben erlegen, die Eltern könnten auch über den Betreuungsumfang und die Frage, was ihnen und ihren Kindern gut tut, frei entscheiden.“ Doch wer das will, muss im Kita-Gutscheinsystem Geld auf den Tisch legen. Eine Stunde im Monat kostet im günstigsten Fall pro Kind 70 Euro.