: „Da kam Geißler. Sag ich, was willst denn du mit den Akten? Du kannst deine Akten einpacken. Du wirst kein Generalsekretär mehr sein“
Durch eine ARD-Dokumentation wird jetzt wohl auch den Letzten klar, warum Helmut Kohl 16 Jahre Kanzler sein konnte
von JAN FEDDERSEN
Am Schluss, am Ende des zweiten Teils, erteilt Helmut Kohl noch eine Lehre, die ihm, so erzählt er, die Mutter schon erteilt habe. Die er damals „natürlich“ nicht verstehen konnte: „Die Hand, die segnet, wird zuerst gebissen.“ Der Teil wird kommenden Montag in der ARD zu besichtigen sein. Und alle, die von Kohl mit diesem Satz gemeint sind, werden sich auch gemeint fühlen: Norbert Blüm, Rita Süssmuth, Heiner Geißler, Lothar Späth und Wolfgang Schäuble, wahrscheinlich auch Richard von Weizsäcker und Angela Merkel, Nachfolgerin von Kohl und Schäuble im Amt der CDU-Vorsitzenden. Was der sehr lange 16 Jahre (1982 bis 1998) die Regierungsgeschäfte der Bundesrepublik führende Politiker mit diesem Satz sagen will, liegt auf der Hand.
Er hat sie alle hochkommen lassen, hat sie gefördert, an ihnen festgehalten – und zugleich fallen gelassen, als diese gegen ihren Promoter aufrührig zu werden begannen.
Ihr Fall begann im Frühjahr des Jahres 1989, als noch alle Welt von einer ewig stabilen sozialistischen Welt ausging und Kohl nach gut sechs Jahren als Chef einer schwarz-gelben Koalition mehr schlecht als recht regierte. Pannen und Skandale säumten seinen Weg, auch diese beleuchtet der ARD-Film von Stephan Lamby und Michael Rutz. Der zustimmende Vergleich des Perestroika-Politikers Michail Gorbatschow mit dem Nazipropagandisten Joseph Goebbels beispielsweise, den ein Getreuer am Hofe Kohls als „Flop“ bezeichnet, der diplomatisch nur zäh zu tilgen war. Oder die fahrig-unwahren Behauptungen in einem Untersuchungsausschuss, der keine Abdankung zur Folge hatte, sondern eigentlich gar nichts.
Jedenfalls stand es um den Machterhalt der Union nicht günstig – und das machte Politiker wie Süssmuth, Geißler und Spät unruhig. Doch sie trauten sich nicht, Süssmuth räumt im Film sogar ein, „manchmal“ ein wenig „Angst“ vor Kohl gehabt zu haben. Dreimal beteuert sie, vor dem Bremer Parteitag, sich mit ihren parteiinternen Alliierten „nur zweimal“ getroffen zu haben: Und das war für Kohl zweimal zu oft. Sie trauten sich nicht wirklich, die Ablösung Kohls auf dem Parteithron einzuleiten.
Der Exkanzler, den die Filmautoren vier Tage lang in seinem Haus in Ludwigshafen-Oggersheim besuchen konnten, berichtet von diesem Parteitag in Bremen wie von einem Abgrund, von dem er sich eben noch abwenden konnte. Wie er Pein gespürt habe, aber er sei ja „stur im Aushalten von Schmerzen“, denn eine Prostataerkrankung hätte eigentlich eine Anwesenheit auf dem Parteitag ausschließen müssen.
Aber ein Kohl kneift nicht, so muss es gedeutet werden. So ein Mann, der bis 1973 eine glänzende Karriere in der rheinland-pfälzischen CDU angestrebt und gemacht hat, gibt nicht auf. Im Gegenteil. Generalsekretär Heiner Geißler hat die Friedensbewegung gegen die Nato-Nachrüstung mit dem Vergleich, der Pazifismus habe erst Auschwitz ermöglicht, zur ohnmächtigen Wut getrieben. Als er eines Montags zu Kohl kommt, um mit ihm den Parteitag 1989 vorzubereiten, sagt der Chef nur: „Was willst du denn mit den Akten? Du kannst deine Akten einpacken. Du wirst den Parteitag nicht vorbereiten. Du wirst kein Generalsekretär mehr sein.“ Da muss Kohl beim Erzählen richtig lachen. Wie Geißler sagte: „Das kannst du nicht machen.“ Und er dann kalt, eisig kalt angefügt hat: „Ich habe dich gewarnt.“
Der erste Teil des Films vom Montag zeigte nicht nur, mit welcher Kälte Helmut Kohl seine Machtgeschäfte betrieb, sondern er belegt auch, wie das Verständnis des Pfälzers von Macht dekliniert wird: als eine Kette von Möglichkeiten, die man ergreifen muss, wenn man sie greifen kann. Voraussetzung hierfür ist Kohls funktionales Verständnis von Freundschaft, in der Summe ein Freundeskreis, der, so Kohl, eine Seilschaft genannt werden kann: Das komme aus der Bergsteigersprache und heiße, dass man sich beim Aufstieg helfe.
Faszinierend ist, zu sehen, dass Kohl bis heute nicht eingesehen hat, dass ein solches Verständnis von Politik nur bedingt funktioniert. Im Gegensatz zu Richard von Weizsäcker, der 1984 zum Bundespräsidenten gewählt wurde und auch kein Freund von Kohl mehr ist. Eine Partei, sagt der nach wie vor als Mahner und Warner tätige Politiker, habe Interessen – und die wolle sie mit Hilfe von Personen in Ämtern durchsetzen. Freundschaft als Kategorie existiere in einer solchen Welt nicht, sagt Weizsäcker.
Kohl kann das nicht verstehen. Die Welt ist ihm, auch dies zeigt die Dokumentation, auch ein Spielfeld voller Ambitionen, aber durchwirkt sind sie von Freundschaften und anderen menschlichen Verhältnissen.
„Er telefoniert immer noch“, sagt Wolfgang Schäuble, auch er einer, auf den Kohl sich glaubte verlassen zu können – und der doch von ihm abrückte, als der Ruf der Union während der Spendenaffäre ab 1999 mehr und mehr zu leiden begann. Und Kohl sich partout auf sein „Ehrenwort“ berief, um die Namen einiger Spender nicht zu verraten.
Man erfährt auch in diesem Film nichts über diese versteckten Mäzene, aber kenntlich wird doch das quasifamiliäre Politikverständnis des Helmut Kohl: Allen Gesetzen zum Trotz wird niemand aus einer Familie verraten – das alte Credo jeder Mafia.
Volker Neumann, SPD-Parlamentarier, beklagt sich selbstverständlich zu Recht über diese Macht des Familiären, betont die Ungeheuerlichkeit, dass ein Gesetzesbrecher auch Bundeskanzler sein kann – merkt aber nicht, wie sehr dieses strategische Prinzip Kohls die Bundesrepublik bis heute durchzieht: Man kennt sich, und man hilft sich – das wusste schon Konrad Adenauer.
Wer keinen Saumagen mit Kohl aß, konnte auch nicht darauf hoffen, von Büroleiterin Juliane Weber eilig zum Chef durchgestellt zu werden.
Was der Film nicht beleuchtet, ist der Klassendünkel, dem auch ein Helmut Kohl noch in den Fünfzigern unterworfen war. Er, ein Aufsteiger aus der pfälzischen Provinz, einer, dem damals erkennbar nie Weltläufiges anhaften würde, musste sich als Strippenzieher betätigen, als Freundschaftsbauer (Gregor Gysi: „Das waren immer nur Abhängigkeitsbeziehungen.“), als Headhunter, der in Göttingen eine Süssmuth ausgrub und in irgendwelchen Provinzbehörden den Geißler. Der die Weber schon lange kannte und die Ackermann auch; den Fahrer sowieso und auch den Späth aus Baden-Württemberg. Das ist noch so ein Aufsteiger, der in der Unionsnomenklatura der Sechziger nicht so recht was werden konnte. Einer wie Kohl hatte keine andere Chance, als sich brachial eigene Bergsteigertrupps zusammenzucasten – sonst wäre ihm das Projekt CDU als Volkspartei misslungen. Was hätte er sonst tun können, um die eigenen Pläne um den Platz an der Sonne nicht schon als Idee zu begraben?
Tragisch: Noch heute, auch dies ein schönes Moment des Films, glaubt Norbert Blüm unverbrüchlich an das Ideal des „Die Reihen fest geschlossen“ – vor allen Inhalten, vor aller Differenz. Wichtig sei nur, dem Gegner, also der Sozialdemokratie, keine Angriffsfläche zu bieten.
Kohl reüssierte als Modernisierer, als Liberaler, der die Deutschnationalen in der Union für sich einnehmen konnte, weil Letztere allein nie wieder die Sozialliberalen hätten beerben können. Dieser Ritt an die Macht bringt ihm bis in linksalternative Kreise hinein das Lob ein, Vater der deutschen Einheit zu sein. Er zieht aber auch seine Ehe heftig in Mitleidenschaft.
Die Kohls müssen sich 1973 entfremdet haben – als Kohl darauf bestand, Bundesvorsitzender zu werden und sich weniger um Mainz als mehr um Bonn zu kümmern. Hannelore Kohl war nicht einverstanden, und der Zuschauer versteht, dass in jenen Tagen etwas anders geworden sein muss bei diesem Paar.
Kohl, das ist der Eindruck des Interviews, will sein Licht nicht bei Tag anmachen, er möchte gerecht bewertet werden. Aber er versteht die Aversion gegen ihn nicht, er tut sie mehrmals ab als Tun von DDR-Söldnern.
Er sitzt vor den Kameras und strotzt vor Zufriedenheit. Er muss nichts mehr, wobei ihm ein Korrektiv fehle, wie er sagt, seine Frau habe ihn öfter gemahnt, nicht so brachial mit Weggenossen umzugehen. Helmut Kohl sagt dies bedauernd – aber sein Körper spricht eine bessere Sprache: Er ist jetzt offenbar mit sich im Reinen.