: „Sechs Familien haben alles in der Hand“
Pleiten wie die von Parmalat werden durch lasche Kontrollen und den „starken Willen, zu betrügen“ begünstigt, meint Ökonom Paolo Leon
taz: Der Parmalat-Zusammenbruch – ist das ein isoliertes Ereignis, oder haben wir es mit einem Fall zu tun, der typisch ist für die italienische Unternehmenslandschaft?
Paolo Leon: Er ist der größte Fall in einer insgesamt endemischen Situation. Viele der in diesem Zusammenbruch vorhandenen Merkmale finden sich in kleinerem Maßstab bei zahlreichen Großunternehmen. In Italien sind Konzerne in einem Maß verschuldet, das woanders schlicht undenkbar wäre.
Wodurch erklärt sich der hohe Kreditbedarf?
Er hat zwei unmittelbar miteinander verbundene Ursachen. In Italien herrscht immer noch ein „familiärer“ Kapitalismus, und zugleich ist unser Kapitalmarkt, sprich die italienische Börse, extrem schwachbrüstig. Das gehört zusammen, denn die Eigentümerfamilien haben in der Regel nicht genug finanzielle Ressourcen, um die Entwicklung ihrer Unternehmen sicherzustellen, aber sie verschulden sich lieber, als über die Börse Risikokapital anzuziehen. Der Fall Parmalat präsentiert gegenüber früheren Firmenkrisen eine wichtige Neuheit. Denn da ja eine – wenn auch ungenügende – Kontrolle des Kreditwesens existiert, wurde Parmalat von den Banken vor allem durch die Ausgabe von Obligationen finanziert. Wir erleben hier die Folgen einer Liberalisierung, die auf der einen Seite schwache Kontrollen sieht, auf der anderen Seite den starken Willen von Kapitalisten, zu spekulieren und zu betrügen.
Können wir denn jetzt auf einen Reinigungsprozess hoffen?
Wünschenswert mag das schon sein – bloß darf man die Folgen nicht vergessen für all die Betroffenen, die keinerlei Verantwortung für diese Fehlentwicklungen haben: für die Arbeitnehmer, die Sparer, für jene Unternehmen, die korrekt agieren. Unsere Gewerkschaften sollten das aber auch zum Anlass nehmen, selbstkritisch in den Spiegel zu schauen.
Was haben sie falsch gemacht?
Niemand, auch die Gewerkschaften nicht, hat je gefragt, woher Calisto Tanzi sein Geld hat. Ich habe mehrere Jahre in Parma gelebt, da war stadtbekannt, dass Tanzi selbst ursprünglich keine einzige Lira auf der Tasche hatte. Auch auf der Linken sollte man darüber nachdenken, wie ein liberalisierter Markt beherrschbar bleiben kann. In einem liberalisierten Markt steigt nun mal der Prozentsatz von Unternehmern, die zu den größten Betrügereien bereit sind.
Aber die jetzige Regierung kündigt doch schon eine Neuordnung der Finanzaufsicht an.
Von der ich mir nichts erwarte. Bei der Mailänder Börse sind gerade mal 200 Unternehmen gelistet, und von denen gehören zwei Drittel zu sechs Unternehmensgruppen; wir sprechen also über sechs, sieben Familien, die alles in der Hand haben. Dass die sich einer echten Kontrolle unterwerfen, erscheint eher unwahrscheinlich – vor allem, solange einer von ihnen Berlusconi heißt und an der Regierung sitzt.
INTERVIEW: MICHAEL BRAUN
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen