: Analog ist auch nicht anders
In der Berliner Literaturwerkstatt stellten Florian Thalhofer und Tobias Freudenreich ihre digitalen Hypertexte „Kleine Welt“ und „Karen B.“ vor. Dabei ging es ihnen weniger um Interaktivität als ums Erzählen und um Spannung
Auf dem Bildschirm öffnet sich das erste Bild, ein Blumenloch im Straßenpflaster, in dem Stiefmütterchen wachsen. Ein Erzähler sagt im tiefsten Bayrisch, dass „Birkenbäume Schweine sind, da kannst du zeitweise nicht mal dein Auto darunter stellen, wegen dem klebrigen Zeug, das runtertropft.“ Deshalb haben seine Eltern, als er zuhause auszog, die Birken gefällt, sagt er. Dann tun sich auf dem Bildschirm fünf Links auf. Es erscheinen Bildausschnitte, die man anklicken kann. Der gewählte Ausschnitt vergrößert sich, eine neue Geschichte wird erzählt.
Für sein interaktives Projekt „Kleine Welt“, das man aus dem Netz herunterladen oder auf CD-ROM kaufen kann, hat Florian Thalhofer in seiner kleinen Heimatstadt Schwandorf in der Oberpfalz mehr als fünfzig Anekdoten gesammelt, von der Eisdiele Pelegrin, von einer neuen Polizeischule, vom Wirt, der früher einmal Amateurmeister im Halbschwergewicht war, vom Zinnbauer Peter, der eine Zivildienststelle beim Malteser Hilfsdienst hat. Man kann sich diese Geschichten abrufen wie Erinnerungen. Sie hängen nicht in einer linealen Erzählung zusammen, das Hin-und Herspringen gehört zu ihrer Struktur.
Inwieweit multimediale Projekte wie die Florian Thalhofers, die Text, Bild und Ton auf noch einmal andere Weise verknüpfen als der Film, Rezeptionsgewohnheiten verändern können, darum ging es an einem Abend in der Berliner Literaturwerkstatt zum Thema „Digitale Fiktionen“. Auch Tobias Freudenreich stellte sein Projekt vor: „Karen B.“ funktioniert ähnlich wie „Kleine Welt“ – durch Klick auf bewegliche Kugeln kann sich der Leser wie ein Detektiv Stück für Stück die Geschichte des Verschwindens einer jungen Frau zusammensetzen. Es werden Dokumente wie Zeitungsausschnitte, kleine Filme oder Nachrichten auf dem Anrufbeantworter gezeigt. Auch, wenn man nicht chronologisch vorgeht und sich der Fall zufällig von hinten aufrollt, fügt sich die Geschichte am Ende im Kopf zu einer ganzen.
Verändert diese Art von Interaktivität die Position des Lesers? Viele, wie Roberto Simanowski, der ein Buch über Netzliteratur geschrieben hat und in der Literaturwerkstatt eine Einführung in die Möglichkeiten digitaler Narration gab, verknüpfen mit der neuen Technik die Hoffnung auf eine neue Ästhetik, wie sie avantgardistische Literatur schon seit mehr als einem Jahrhundert propagiert. Hypertexte wie die Florian Thalhofers oder Tobias Freudenreichs steckte er in die Traditionslinie der Cut-up-Technik, die durch Zufall Dinge kombinieren wolle, die man bewusst so nie kombiniert hätte.
Mag sein, dass an einigem, was hier so trocken wie im Seminar verhandelt wurde, etwas dran ist, dass es sich wirklich um neue Formen der Narration handelt, die Tobias Freudenreich und Florian Thalhofer vorführen. Warum aber muss digitale Narration immer als Fortentwicklung von Literatur behandelt werden? Es wäre doch auch Unsinn, den Film, nur weil es Papier schon länger gibt als Kameras, als eine Art von Literatur zu betrachten. Am Ende brachte Florian Thalhofer den theoretischen Wasserkopf, der seinem Medium so eifrig aufgepfropft wurde, auf angenehme Art zum Platzen: Es sei natürlich Quatsch, vom Tod des Autors zu reden bei seinem Medium, nur, weil es den Betrachter mehr tun lasse als den Leser eines Buches, sagte er. Schließlich habe er als Autor immer noch die Fäden in der Hand. Er allein habe die Verknüpfungspfade gesetzt, die den Leser lenken. Würde man längere Geschichten erzählen wollen, müsste man die Wahlmöglichkeiten wieder reduzieren. Die Zukunft digitaler Erzählweisen scheint in der Einschränkung zu bestehen. SUSANNE MESSMER