: Spannung zwischen Glauben und Leben
Die Kirche darf nicht zur Entschärfungsinstanz werden: der Bremer Intendant zum Theaterstreit um die „Zehn Gebote“
Die Realität des heutigen Lebens macht weder an der Kirchentür noch an der Bühnenpforte Halt. Weder Theater noch Kirche können sich der Lebenswirklichkeit verschließen, wenn sie nicht im lebensfernen Abseits landen und ihre Besucher bzw. Gläubigen verlieren wollen. Dieses Problems waren sich beide Bremer Kirchen, die uns eingeladen haben, bewusst.
In der sich neu entwickelnden Wertedebatte wollten wir mit den „Zehn Geboten“ einen Grundkanon des christlichen Lebens ins Spannungsfeld zum realen Leben setzen. Sicher gibt es Gläubige der Kirche und Besucher des Theaters, die sich beide Institutionen als Räume wünschen, in der sie am sichersten vor der Realität geschützt sind. Aber das ist nicht unser Verständnis.
Aber wie viel Realismusdarstellung ist in einer Kirche möglich? Wer definiert die Grenze und wann sie überschritten wird? In der St.-Petri- Domgemeinde (die wir verlassen mussten) und in der evangelischen Friedenskirche (die uns aufgenommen hat) beantworteten Pfarrer und Gemeindevorstand diese Frage aufgrund unterschiedlichen christlichen Selbstverständnisses sehr konträr. Die St.-Petri-Domgemeinde knickte ein vor einem Druck diffuser Öffentlichkeit mit vielen anonymen Anrufen und Austrittsdrohungen; gleichzeitig schürte eine Boulevardzeitung ein hysterisches Klima. Wir kamen in die Rolle der Kirchenschänder, die die „Würde des Raums“ und „die religiösen Gefühle der Gläubigen“ verletzten. Nichts lag und liegt uns ferner als das. Ist es der „Würde eines Raums“ angemessener, wenn er zum Filter unerträglicher Realismusdarstellung wird? Ist es der „Würde des Raums“ nicht angemessener, wenn die Würdelosigkeit im Umgang der Menschen miteinander thematisiert wird? Heiner Müller, Autor und Regisseur, konstatierte: Man kann einen Autor nicht für die Wirklichkeit verantwortlich machen, die er beschreibt.
Klar ist, dass die Kirche, weil sie Spielort ist, nicht über die Theaterdarstellung entscheiden kann. Die Kirche darf nicht zur Entschärfungsinstanz für das Theater werden. Vom Vorstand der St.-Petri-Domgemeinde wurde nicht begriffen, dass die Darstellung von Gewalt und Rassismus der erste Schritt zu deren Bewusstmachung und Überwindung ist; dass Nacktheit nicht nur sexistisch zu sehen ist, sondern auch ein Bild für extreme Schutzlosigkeit und Ausgesetztheit. Die Collage aus Texten von Fassbinder, Koltès, Pasolini und Lorca wurde von einem Mitglied der Domgemeinde als „minderwertig“ abqualifiziert.
Bedauerlich, dass nach nur drei Probentagen ein aufregendes Experiment ohne Gespräch über den Konflikt abgebrochen wurde. Bedauerlich, dass die (für Bremen nicht zuständige) Hannoveraner Landesbischöfin Margot Käßmann, negativ voreingenommen, den Aufführungsbesuch und ein nachfolgendes Gespräch darüber verweigerte – die Angst vor Grenzüberschreitungen ist groß. Umso bemerkenswerter der Mut der evangelischen Friedenskirche, uns mit dieser Aufführung einzuladen. Gleichzeitig unendlich gestiegen ist die Zahl der selbst ernannten Pfarrer und Intendanten in Bremen, die bestimmen möchten, was noch und nicht mehr stattfinden darf. Von denen lassen sich aber die Friedenskirche und das Theater nicht einkesseln.
KLAUS PIERWOSS
Der Autor ist Generalintendant der Bremer Theater