nebensachen aus rom : Vom täglichen Überlebenskampf des Fußgängers
Der Zebrastreifen als Kulturrelikt
Mit durchschnittlich 13,5 Stundenkilometern rollt an Wochentagen der Verkehr durch Rom. Das ist eine schlechte Nachricht für Autofahrer und – mal abgesehen vom Dauergestank – eine gute für die Fußgänger. Bequem und gefahrlos von einer Straßenseite auf die andere zu wechseln – das kann ja wohl kein Problem sein, wenn der Verkehr sich zäh dahinwälzt.
Aber wie das so ist mit statistischen Durchschnittswerten: Meistens macht man die gegenteilige Erfahrung. Statt mit 13,5 donnern Autos, Busse, Mopeds mit 60, 70, 80 Kilometern heran, von links genauso wie von rechts, als sitze den Fahrern der Leibhaftige im Nacken. Woanders in Rom senkt wohl grade ein Stau die in der Stadt erreichte Durchschnittsgeschwindigkeit auf moderate Werte. Das nützt dem Fußgänger wenig, der sich durch die an ihm vorbeirauschende Großstadtrallye den Weg auf die andre Straßenseite erkämpfen muss.
Gott sei Dank ist auch Italien ein zivilisiertes Land, das den schwächsten Verkehrsteilnehmern gewisse Vorrechte einräumt: An Zebrastreifen herrscht kein Mangel. Leider hat sich ihre Bedeutung nicht recht herumgesprochen; viele jedenfalls scheinen die mysteriösen weißen Striche auf der Fahrbahn für Überbleibsel irgendeiner prähistorischen Kultur zu halten.
Die Folgen: Nirgendwo ist es gefährlicher über die Straße zu gehen als mitten auf dem Zebrastreifen. Der sich per Pedes Fortbewegende meint, hier dürfe er endlich, doch sein motorisierter Gegner sieht das anders. Ob die ältere Dame mit Tunnelblick, ob der junge Kerl mit Handy: Mit Bleifuß geht es Richtung Fußgängerüberweg. Der Fußgänger hat die Wahl: Er kann es sich am Straßenrand bequem machen – oder er stürzt sich in den Verkehr. Die schreckhafteren unter den Autofahrern bremsen dann womöglich, doch es geht auch anders: Noch mehr Gas und mit Schwung knapp um den lästigen Störenfried herumgekurvt, als wäre der ein rot-weiß bemalter Kegel aus dem ADAC-Schleuderkurs.
Aber wehe, das Opfer reagiert mit unflätigen Bemerkungen, mit obszönen Gesten. Sofort steigt der Autofahrer ins eben noch unauffindbare Bremspedal und bringt den Wagen zum Stehen, nicht um sich zu entschuldigen, sondern um Prügel anzubieten – oder auch bloß, um seine Sicht der Dinge darzulegen. Was, ein Zebrastreifen? Hör’n Sie mal, ich konnte nicht mehr bremsen, ich war schließlich mit 90 unterwegs. Von den Regeln nicht vorgesehen? Guter Mann, Regeln muss man interpretieren.
Manchmal gibt’s auch pädagogische Belehrungen. Im letzten Moment steigt die Lady in die Eisen, bremst direkt vor der Mama mit dem Kinderwagen, lehnt sich mit rotem Kopf aus dem Fenster. „Wollen Sie etwa Ihr Baby umbringen?“ Der Einwand, die potenzielle Mörderin sei ja wohl die forsche Fahrerin selbst, stößt da ins Leere. Ein müdes Grinsen bloß, dann die Erklärung: „Im Zweifelsfall sind Sie samt Kind tot – und ich zahle bloß eine Geldstrafe.“
Die Dame hat Recht: Ihr Vergehen gilt Roms Verkehrspolizisten als lässliche Sünde. Geldbußen bloß wegen ungebremsten Überquerens eines Zebrastreifens? Niemals. Fast niemals: Letzthin meldete die Lokalpresse, dass es eine Buße von 70 Euro gehagelt hatte. Der Mann war allzu flott über den Überweg gerollt – auf seinem Fahrrad. MICHAEL BRAUN