: Der Traum von der geheizten Wohnung
Das Hamburger Straßenmagazin „Hinz&Kunzt“ ist das auflagenstärkste in Norddeutschland. Seinen Verkäufern bietet es Hilfe zur Selbsthilfe – und den Käufern Lektüre nebst gutem Gewissen. Die Zeitung ist gerade 15 Jahre alt geworden, gibt sich aber immer noch so kämpferisch wie in den Anfängen
VON FLORIAN ZINNECKER
Was das Ganze soll, steht gleich auf den ersten Seiten der Geburtstagsausgabe: Sieben Verkäufer der Hamburger Obdachlosenzeitung Hinz&Kunzt zeigen, wo sie jetzt leben – im vierten Stock eines Altbaus in Eimsbüttel, in einer Erdgeschosswohnung in Wandsbek, in Langenfelde, in Wilhelmsburg, in Barmbek. Daneben prangt, seitengroß, jeweils ein Foto ihrer bisherigen Schlafplätze: vor dem Notausgang eines Kaufhauses, auf einer Bank im Alsterpark, im Rohbau eines Hauses oder – der Klassiker – unter der Brücke. Die Überschrift: „Ich hol’ mir so schnell ’ne Erkältung.“ Die gar nicht zu sehr versteckte Botschaft: Manchmal geht es auch wieder aufwärts.
Die Regel sind solche Erfolgsmeldungen nicht – und das liegt nicht daran, dass in der auflagenstärksten Straßenzeitung des Nordens für gute Nachrichten kein Platz wäre. Hinz&Kunzt will alles sein, nur kein Jammerblatt, sagt Chefredakteurin Birgit Müller. Nur, für einen nicht unerheblichen Teil der rund 400 Hinz&Kunzt-Verkäufer führt der Weg nach getaner Arbeit nicht in eine geheizte Wohnung, sondern unter Brücken und in Hauseingänge.
Einverstanden waren die Macher von Hinz&Kunzt damit nie: Zwei Jahre vielleicht, lautete das Credo, dann würde die Angelegenheit erledigt sein. „Wir dachten, wir könnten alle Obdachlosen in Hamburg“ – 500 nach offizieller Schätzung – „über unser Projekt in Wohnungen vermitteln und das Problem dann ad acta legen“, sagt Müller. Sie seien damals „sehr euphorisch“ gewesen, „echte Idealisten“. Das sei sehr, sehr naiv gewesen – in den 15 Jahren, die seither vergangen sind, hat sich die Zahl der Obdachlosen in Hamburg verdreifacht.
In dieser Zeit ist die Auflage von Hinz&Kunzt gestiegen und wieder gefallen. Erst waren es 30.000, dann sehr schnell 120.000 und kurzfristig sogar 180.000 Exemplare. Heute sind es rund 60.000 Magazine, die die Hinz&Kunzt-Verkäufer an ihre Kunden bringen – an U- und S-Bahnhöfen, in Ladenstraßen und vor Supermärkten. „Ich stelle aber fest: Wir werden ernster genommen, auch wenn die Auflage gesunken ist“, sagt Müller.
Dennoch ist diese Zahl nicht nur für Werbekunden wichtig. 60.000 Exemplare heißt auch: 60.000 Mal bleibt ein Kunde stehen, 60.000 Mal verdient ein Verkäufer daran 90 Cent, zuzüglich Trinkgeld. Und 60.000 Mal entsteht ein kurzes Gespräch – besonders dann, wenn der Kunde regelmäßig kauft.
Damit aus Kunden Stammkunden werden, habe jeder Verkäufer einen fixen Platz, sagt Müller. Dabei sei man „auch im Speckgürtel präsent“. Etwa mit Gustav, der mit Handwagen und Schild mitten in einer Lüneburger Einkaufsstraße steht. „Immer in der ersten Woche im Monat, Sommer wie Winter“, sagt er – im Winter mit drei Sockenpaaren in den Stiefeln. „Geht aber nicht anders“, sagt Gustav. Seine Kunden wüssten, dass er da sei.
Verkauft habe er schon 1994, erzählt er. Zwischendurch hatte er dann einen Job bei der Stadt Hamburg, dann einen Dienstunfall – „und dann“, sagt er, „ging es weiter“. Zum Glück habe er jetzt einen Wohnheimplatz in Lüneburg – aber jetzt müsse er sich entschuldigen, er müsse nach Hamburg, neue Hefte holen.
Mit der Zeit, sagt Hinz&Kunzt-Chefredakteurin Müller, sei ihnen immer klarer geworden, dass manche Menschen, die rausfliegen, nicht so einfach wieder zurückfinden. Vielleicht hatten sie eine schlimme Kindheit, vielleicht sind sie krank oder haben ein Problem mit Drogen oder Alkohol. Dass die Schuld nicht nur bei den Betroffenen liegt, sondern auch an der politischen und gesellschaftliche Gesamtsituation, habe sie erst allmählich verstanden, sagt Müller.
Die durchschnittliche Lebenserwartung auf der Straße liegt nach Angaben des Hamburger Instituts für Rechtsmedizin bei knapp 47 Jahren. „Das“, sagt Müller, „war für mich ein Schock.“ Angesichts dieser Tatsache will die Redaktion „eine Stimme sein, eine soziale Stimme in dieser Stadt“ – eine Lobby für Obdachlose und alle, die von Armut betroffen sind.
Die Idee, das Obdachlosenmagazin zu gründen, hatte der damalige Diakonie-Chef Stephan Reimers. Der habe eine Gruppe aus engagierten Interessierten zusammen getrommelt, erinnert sich Müller – sechs, vielleicht sieben Leute, zur Hälfte mit festem Wohnsitz, zur Hälfte ohne. „Wir hatten den Eindruck, die Idee liegt in der Luft.“ Nicht, weil sich in Hamburg jeder plötzlich mit Obdachlosigkeit befasst hätte. Sondern weil viele Menschen das Gefühl hatten, dass die Gesellschaft dabei sei, spürbar kälter zu werden.
Tatsächlich erschien drei Wochen vor der Erstausgabe von Hinz&Kunzt die erste Ausgabe des Straßenmagazins BISS – in München. Auch in Braunschweig wurde mit Parkbank eine Straßenzeitung gegründet. Es folgten Abseits in Osnabrück, Asphalt in Hannover und schließlich Hempels in Kiel.
Den ursprünglichen Plan, die Zeitung größtenteils ehrenamtlich zu erstellen, musste die Redaktion schnell aufgeben: „Das ging gar nicht“, sagt Müller. Vor dem Erscheinungstag der ersten Ausgabe seien sie da gesessen, hätten auf leere Blätter geguckt und nicht gewusst, wie sie die Zeitung füllen sollten. „Es gab zwar viele tolle Journalisten, die ehrenamtlich helfen wollten“, sagt Müller. „Aber wie das bei Journalisten so ist: Die tollen haben viel zu tun.“
Wie viel Geld ins Magazin fließen soll, wird heiß diskutiert. Einerseits muss sich die Redaktion selbst tragen, andererseits soll noch Geld für die Sozial- und Lobbyarbeit bleiben. Das Geld, sagt Müller, komme ausschließlich aus Spenden und dem Verkauf.
Ins Heft kommen nicht nur Lebensgeschichten, sondern auch das, was sozialpolitisch und gesellschaftlich von Belang ist. Und natürlich: Kunst und Kultur. „Manchmal würde ich gerne richtig vom Leder ziehen“, sagt Müller. „Aber das tun wir nicht. Wir wollen nicht platt und reißerisch sein.“ Was in Hinz&Kunzt veröffentlicht werde, sei immer auch ein Kompromiss „zwischen den Obdachlosen und uns“.
Gestern, sagt Müller dann noch, habe ihr ein Verkäufer einen Brief gebracht. Darin schrieb er, Hinz&Kunzt sei weniger politisch geworden. „So etwas“, sagt Müller, „nehme ich sehr ernst.“