: Geld für Zeit
Das deutsche Gesundheitssystem ist auch darum zu teuer, weil es kostenaufwändige Behandlungen belohnt. Aus dem Blick geraten dabei die Bedürfnisse der Patienten
Ärztinnen und Ärzte sind die Schaltstellen im Gesundheitswesen. Nach welchen „Leistungsprinzipien“ sollen die Ärzte bezahlt werden? Es ist eine Illusion zu glauben, ärztliche Entscheidungen würden allein nach medizinischen Kriterien fallen. Auch in der Arztpraxis hat das Geld immer einen gewissen Einfluss. Es ist daher notwendig, sich die Antriebe genauer zu betrachten, die durch das Honorierungssystem vorgegeben werden.
Die Bezahlung eines Autoverkäufers ist einfach zu regeln: je mehr Umsatz, desto mehr Geld. In der Medizin liegen die Dinge anders: Es ist sinnlos, Ärzte nach der Menge der durchgeführten EKGs und Röntgenaufnahmen zu bezahlen. Es ist geradezu das Wesentliche der ärztlichen Tätigkeit, bei allen medizinischen Maßnahmen gründlich zwischen Tun und Lassen abzuwägen, weil ein undifferenziertes Tun dem Patienten weit mehr schaden als nützen kann. Nun ist aber bislang immer nur das Tun belohnt worden. Das ist paradox. Gerade fachlich und menschlich fähige und erfahrene Ärzte werden finanziell bestraft: Wer mit wenig Aufwand und viel Erfahrung die richtigen Diagnosen stellt, die Behandlung möglichst effektiv gestaltet und zudem den Patienten gut informiert und einbezieht, verdient weniger. Wer ständig Untersuchungen und Wiedervorstellungen veranlasst, verdient mehr (durch die aktuell und für einen Teil der Ärzte gültigen Budgetobergrenzen wird das zwar relativiert, aber das falsche Grundprinzip besteht unverändert). Die entscheidende Frage ist: Wie lassen sich wertvolle ärztliche Fähigkeiten im Honorierungssystem abbilden?
Bisher gilt: Je mehr Diagnosen gestellt werden, desto höher wird der Umsatz. Oder: Ohne Krankheit kein Geld. Daher hat das Gesundheitswesen und erst recht die Industrie ein heimliches Interesse daran, auch leichte Störungen als Krankheiten zu behandeln. Harmlose Muskelverspannungen, Cholesterinerhöhungen oder Haarausfall werden zu Gründen für regelmäßige Arztbesuche. Der natürliche Alterungsprozess wird zu einer ganzen Ansammlung von Krankheiten. Bei Erkältungskrankheiten werden anstatt Ruhe und Tee mehr oder weniger unwirksame Säfte und Pillen verordnet.
Gleichzeitig wird der verhängnisvolle Prozess der Fixierung in Gang gesetzt: Menschen reagieren auch bei leichten Störungen mit Angst, verlieren das Vertrauen in ihren Körper und glauben, bei jeder Einschränkung des Wohlbefindens ärztliche Hilfe aufsuchen zu müssen. Die übertriebene Sorge um die eigene Gesundheit wird selbst zur Krankheit. Im Laufe der Jahre geht die Fähigkeit verloren, beim Auftreten von Störungen zunächst eine gewisse Gelassenheit zu bewahren und andererseits mit unabänderlichen Beeinträchtigungen leben zu lernen. Wir vergessen, dass trotz eines erfolgreichen Medizinsystems sich Krankheiten nicht ausrotten lassen, sie werden lediglich ins höhere Lebensalter verschoben.
Das Gesundheitswesen muss aber in erster Linie dem Patienten dienen, erst in zweiter Linie ist das Wohl der Gesundheitsarbeiter wichtig. Die Bedürfnisse der Industrie stehen an dritter Stelle. Das Gesundheitswesen ist gut und effektiv im Sinne der Bedürfnisse der Solidargemeinschaft, wenn es möglichst selten benötigt wird. (Oder ist die Feuerwehr gut, wenn es möglichst häufig brennt?) Wenn der Arzt aber gebraucht wird, soll er mit möglichst wenig Aufwand das medizinisch und menschlich Machbare erreichen. Was Arzt und Patient unbedingt brauchen, ist honorierte Zeit. Denn Therapie ist zum erheblichen Teil Information und Kommunikation. Ansonsten ist es richtig, Ärzte dafür zu belohnen, dass sie sich möglichst häufig überflüssig machen. Dieses bewusste Lassen ist nicht etwa ein Nichtstun, sondern im Gegenteil eine besondere ärztliche Fähigkeit, die man besser als Nichttun bezeichnen sollte. Hinter diesem Nichttun steckt nicht nur eine im Sinne der Gemeinschaft gewünschte und für das gesundheitliche Selbstvertrauen der Patienten sinnvolle Passivität des Arztes, sondern auch die wichtige ärztliche Fähigkeit, die Patienten zu mehr Autonomie anzuleiten. Zudem sollte das Nichttun dem Arzt so gelingen, dass Vertrauen und Bindung die Arzt-Patient-Beziehung dominieren.
Also sind für eine sinnvolle Reform der Arzthonorierung zwei Tabubrüche erforderlich: Erstens muss ein Teil der Arztgehälter für die Fähigkeit des Arztes gezahlt werden, möglichst häufig nicht gebraucht zu werden. Zweitens muss ein Anteil der Arzthonorare auf der Basis der subjektiven Zufriedenheit der Patienten vergeben werden.
Eine neue, geschickt konstruierte Gebührenordnung kann darüber hinaus einfach und übersichtlich sein. Der folgende Vorschlag des Autors kommt mit fünf Ziffern aus, wobei „Ziffern“ von den Ärzten für jeweilige Leistungen selbst vergeben werden. Die aktuell gültige Gebührenordnung enthält mehr als 1.000 Ziffern in einem 300-seitigen Buch – mit keiner einzigen Ziffer davon wird die Fähigkeit belohnt, mit weniger Aufwand dasselbe zu erreichen. Diese 5-Ziffern-Gebührenordnung umfasst zwei Textseiten und wird hier in Stichpunkten dargestellt: Das Arzthonorar setzt sich zusammen aus einer geschickten Kombination aus Quartalspauschale, Zeitpauschale und Stammpatientenpauschale. Die Zeitpauschale für Gespräche ist dabei höher als die für sonstige ärztliche Tätigkeiten. In die Stammpatientenpauschale geht die subjektive Patientenzufriedenheit mit ein, die zwar kein „hartes“ Kriterium ist, wohl aber eine reale Größe bei der Beurteilung des Gesundheitswesens. Außerdem stellt dieses scheinbar leistungslose Honorar einen gewissen Ausgleich für die etwa 50 Stunden unbezahlten Bereitschaftsdienst dar, den jeder Hausarzt wöchentlich für seine Patienten leistet. Belohnt wird in diesem System derjenige Arzt, der seine Tätigkeit so ausübt, dass er möglichst selten gebraucht wird. Der aber, wenn er gebraucht wird, mit vollem Einsatz alle wissenschaftlich begründeten medizinischen Maßnahmen ergreift. Der seine Untersuchungen und Therapien mit möglichst wenig Belastungen für seine Patienten durchführt. Der bei jeder seiner Entscheidungen den Patienten im Gespräch mit einbezieht und den obersten Grundsatz beherzigt: Vor allem nicht schaden.
Eines sollte uns klar sein: Die Gemeinschaftsaufgabe Gesundheit lässt sich nicht allein mit marktwirtschaftlichen Mitteln regeln. Gesundheit ist keine Ware. Die „unsichtbare Hand“ des Marktes vergrößert im Gesundheitswesen die Kluft zwischen guter und schlechter Versorgung. In einem liberalisierten Gesundheitswesen steht der Unterversorgung der Armen die (auch nicht ungefährliche) Überversorgung der Reichen gegenüber. Für ein gerechtes Gesundheitssystem ist die durch die Solidargemeinschaft bewirkte Umverteilung von Reich zu Arm und von Gesund zu Krank gewollt und dringend notwendig.
WILFRIED DEISS