: Sehnsucht ohne Ort
Von Tom Waits bis Chavela Vargas: Mit ihren polyglotten Balladen fügt sich die Sängerin Lhasa in die Reihe berühmter Melancholiker des Planeten
VON ROMAN RHODE
Schönheit, so glaubten die Azteken im alten Mexiko, sei deshalb so eng mit der Schwermut verwandt, weil sie ebenso vergänglich ist wie das Leben. Bis heute lebt diese Idee in der mexikanischen Musik fort. Sänger wie Chavela Vargas oder José Alfredo Jiménez haben stets eine melodramatische bis morbide Stimmung interpretiert. Ihre so genannten Rancheras sind längst Ausdrucksmittel jener Menschen geworden, die ihr Stück Land verlassen mussten, sich in der fremden Großstadt jedoch verloren fühlen.
Dass es einmal noch jemand schaffen würde, diesen zärtlichen Pessimismus in die hohe Kunst der Ballade zu überführen, hatte man kaum vermutet. Doch mit der 1972 geborenen Lhasa de Sela zeichnet sich ein Generationswechsel im mexikanischen Chansonfach ab. Ihr 1997 veröffentlichtes Debütalbum „La Llorona“ machte Furore in Frankreich und Kanada, Lhasas Wahlheimat. Der Titel bezieht sich auf eine aztekische Frauengestalt, die – halb Klageweib, halb Sirene – all jene Männer in Steine verwandelt haben soll, die sich ihrem verführerischen Gesang näherten. Zugleich ist „La Llorona“ in Mexiko ein populäres Lamento, in das sich vorzüglich tragische Verszeilen einbauen lassen.
Lhasa gestaltet das Pathos ihrer Ursprungsheimat allerdings individueller und weltläufiger als ihre traditionellen Vorbilder. Auf ihrem gerade erschienenen zweiten Album, „The Living Road“, singt sie nur eine einzige Ranchera: Nicht mehr um Vertreibung geht es in „La Frontera“, sondern um innere Getriebenheit. Keinen Blick zurück gibt es da, auch nicht im Zorn. Ankommen, um wegzulaufen – „J’arrive en fuyant“ – heißt es zu Marimbaklängen in „J’arrive à la Ville“. Der Wind treibt voran und verweht jegliche Spur „an den Ufern des Schicksals“. Lhasa singt von ihrem musikalischen Nomadentum auf Spanisch, Französisch und Englisch: „I’ll put my foot / On the living road / And be carried from here/ To the heart of the world.“
Kein Zufall, das Lhasa so viel vom Reisen singt, denn das ständige Unterwegssein ist untrennbar mit ihrer Biografie verbunden. Als Tochter eines mexikanischen Literaturdozenten und einer US-amerikanischen Fotografin verbrachte Lhasa die ersten vier Jahre ihres Lebens in Mexiko. „Als ich geboren wurde, las meine Mutter ein Buch über Tibet“, erklärt sie ihren Namen. Es folgten zwei Jahre in New York, weitere vier wieder in Mexiko, dann ging es nach San Francisco. So verbrachte die Sängerin immerhin sieben Jahre im Wohnmobil der elterlichen Bohème.
Als Erwachsene zog es Lhasa dann nach Montreal, und nach einem dreijährigen Intermezzo in Marseille lebt sie heute wieder im französischen Teil Kanadas. „Mittlerweile habe ich meinen Identitätskomplex überwunden“, sagt Lhasa. „Ich glaube an die Freiheit, sich eine eigene Identität zu erfinden.“
Auch das unterscheidet sie von ihrer mexikanischen Kollegin Lila Downs, die sich auf ein imaginäres indianisches Kulturerbe festgelegt hat. Lhasa sucht lieber die Nähe zu anderen Melancholikern des Planeten: Neben Chavela Vargas und Cuco Sánchez sieht sie sich von Tom Waits, Bob Dylan, Randy Newman und Billie Holiday beeinflusst. Als ihre europäischen Vorbilder nennt sie die Fado-Sängerin Amália Rodrigues, den Flamenco-Sänger Camarón de la Isla und, wie sie lächelnd zugibt, Radiohead.
Trotz all dieser Einflüsse: Stilistisch bleibt Lhasa selbst stets unverwechselbar. Mit ihrer warmen Altstimme wandert sie über einen ungewöhnlichen Grat zwischen Expression und Verinnerlichung. Ihre Songs, auf „The Living Road“, die alle aus eigener Feder stammen, handeln vom Wagnis und von glühender Leidenschaft (die nicht immer aufflammt), von Hingabe und Zurückhaltung, brennender Ungeduld oder von der Destruktivität der Liebe. Mit alledem stürzt sich Lhasa in ein Mare Magnum der Gefühle: „Sur la marée haute / Je suis montée / La tête est pleine / Mais le coeur n’a pas assez.“
Wie entstehen solche Songs? „Jedes Lied hat seine eigene Geschichte. Zu ‚Abro La Ventana‘ hatte mir der Gitarrist auf meiner ersten Platte, Yves Desrosiers, die Musik geschickt. Zwei Jahre lang versuchte ich, einen Text dazu zu schreiben. Und eines Tages, als ich sehr verliebt war und mein Freund für zwei Monate nach Asien fuhr, konnte ich endlich den Text schreiben. Ich spürte die Melancholie in der Melodie. Ich musste erst eine schmerzliche Trennung auf Zeit erleben, um die Worte für dieses Gefühl zu finden.“
Da erübrigt sich auch die Frage, warum es mit dem neuen Album so lange Zeit – insgesamt sechs Jahre – gebraucht hat. „Ich war weit entfernt von allem. Jetzt komme ich langsam zurück“, sagt Lhasa.
Mit seiner unheilvollen Slide-Gitarre könnte nicht nur „Abro La valentina“ den Soundtrack zu manchen Erzählungen von Judith Hermann abgeben. Ihre Arrangements sind lyrisch und dramatisch zugleich. Mal kommen sie sogar ausgeklügelt verspielt daher, mit einer minimalistischen Tom-Waits-Percussion und dem Gospel-Feeling der Staple Singers, wie etwa in „Small Song“. Oder sie schaffen es, allein mit Gesang und Klavier, den ganzen Kosmos zweier Liebender in drei knappe Strophen zu bannen.
Dabei verzichtet Lhasa auf das spektakuläre Pathos, das viele lateinamerikanischer Boleros so auszeichnet. Chanson, Folk, Blues? Sei’s drum. „And the places I used to be far from are gone“, heißt es in „Anywhere On This Road“. „Ich habe eine Sehnsucht nach Orten, die es nicht mehr gibt“, sagt Lhasa.
Damit erinnert sie an die mythische Vorläuferin der „Llorona“. Das war Cihuacoatl, die Frau des Aztekengottes Quetzalcoatl, der in Gestalt einer gefiederten Schlange die Verbindung zwischen Erde und Himmel darstellte. Dazwischen schummelte sich die schöne Cihuacoatl mit ihrer seufzenden Schwermut und verkörperte den Wind.
Lhasa: The Living Road (Totoutard/Warner Classics)