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Archiv-Artikel

Ernste Zeiten, ernste Filme

Behütete Kindheit war einmal: „Wondrous Oblivion“ eröffnet das 27. Kinderfilmfest und gibt die Richtung vor: Toleranz, Freundschaft und Politik sind die Themen – Harry Potter würde sich wundern

VON ANDREA EDLINGER

Das 27. Kinderfilmfest startete mit einer Zeitreise: Der Eröffnungsfilm „Wondrous Oblivion“ spielt im London der 60er-Jahre. Die berührende Geschichte des elfjährigen David hat aber auch mit deutscher Vergangenheit zu tun: Seine Eltern sind Juden, die aus Deutschland flüchten mussten.

Der verträumte David Wiseman ist ein Cricketfanatiker – nur: Er kann überhaupt nicht Cricket spielen. So schlecht ist er, dass er in der Schule lediglich den Spielstand an der Punktetafel dokumentieren darf. Als eine jamaikanische Familie in das Nachbarhaus zieht, ist David hin und weg: Kaum eingerichtet, bauen die neuen Nachbarn ein Schutznetz im schmalen Hintergarten auf, um dort ihre Partien spielen zu können. Der Junge ergreift seine Chance, freundet sich mit der Familie an und lernt vom Vater die Kunst des Crickets. Damit zieht er allerdings seine eigene Familie in einen Konflikt. Plötzlich stehen sie zwischen der feindlichen Gesinnung der übrigen Nachbarn und der Freundschaft mit der jamaikanischen Familie.

Ein rundum gelungener Auftakt des Kinderfilmestes: Etwa 30 Spiel- und Kurzfilme aus Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Italien, Bosnien-Herzegowina, Schweden, Finnland, Japan, Indien, Kasachstan, Australien, Israel, dem Iran und den USA werden folgen und eröffnen damit ein breites Spektrum anderer Lebenswelten.

Immer wieder kreisen die Geschichten um die Themenfelder Freundschaft, Außenseitertum, Krieg und Migration. Bei über 350 Filmen, die Thomas Hailer, seit zwei Jahren Leiter des Kinderfilmfestes, mit seinem Team gesichtet hat, kristallisieren sich unweigerlich Schwerpunkte heraus. „Ernste Zeiten machen ernste Themen und Filme“, sagt Hailer, und so steht am Ende vieler Geschichten alles andere als das Bild der unbeschwerten Kindheit und Jugend. Eher lässt sich ablesen, dass das Kindsein überall unbehüteter wird, dass Probleme immer früher auftreten. Selbst zu so liebevoll gezeichneten Animationsfilmen wie der französischen Produktion „Die Prophezeiung der Frösche“ liest sich das Programmheft eher wie der Lehrplan für Sozialkundelehrer: Solidarität, Toleranz, multikulturelle Familien, Liebe, Erwachsenwerden …

Probleme werden in den Wettbewerbsfilmen nicht in aufregende Fantasywelten verlagert, sondern finden vor der eigenen Haustür statt – das aber meist mit viel Humor.

„Kinder wollen herausgefordert werden und abseits von ‚Sams‘ und ‚Harry Potter‘ auch Filme sehen, aus denen sie lernen können. Geschichten, nach denen sie mehr über die politische Situation in Israel, Indien, und Pakistan wissen, in denen sie mehr über Freundschaft und Liebe erfahren“, sagt Hailer. Die 30.000 Zuschauer des vergangenen Jahres dürften den Kinderfilmfestleiter in seinem Mut zum ernsten, politischen Film bestätigt haben.

Aber das Kinderfilmfest nimmt Kinder nicht nur als Zuschauer ernst, auch ihr Urteil ist gefragt. Eine elfköpfige Kinderjury zeichnet jeweils ihren liebsten Spiel- und Kurzfilm mit dem Gläsernen Bären aus. Auch hier scheint sich der Eindruck zu bestätigen, dass Kinder ernste Filme wollen: 2003 gewann mit der schwedisch-finnischen Produktion „Elina“ die düstere Geschichte einer Internatsschülerin den Gläsernen Bären.

Trotzdem: Auch ein alt bewährtes Festival braucht Neuerungen. 2004 läuft zum ersten Mal die Programmschiene „14plus – films for the young generation“ mit acht internationalen Produktionen. Die Bedrohlichkeit der Lebensumstände von Kindern erreicht hier mit „Das Paradies ist anderswo“ ihren Höhepunkt: der 17-jährige Iraner Eidok wird in eine Blutrache verstrickt.

Für Teenager zwischen 14 und 18 gab es bislang kein Angebot: zu jung für das Berlinale-Programm, zu alt für Kinderfilme. „Warum ziehen wir junge Cineasten bis 14 groß, und in dem Alter, in dem sie wirklich Zuspruch bräuchten, gibt es dann nichts für sie?“, hat sich Thomas Hailer gefragt. Diese Lücke hat er jetzt geschlossen.