: Holt mich hier raus, ich bin Sozi!
VON TOM SCHIMMECK
Nein, hier knabbern keine kleinen Sorgen, hier ist auch keine Profilierungssucht am Werk. Dies ist die splitternackte, schweißnasse Panik. Das Würgen des finalen Zweifels. Die Kacke dampft himmelhoch. Und es gibt kein Entrinnen, nirgendwohin.
Fühlen wir uns ein: Wir lebt es sich dieser Tage als Sozialdemokrat? Sagen wir mal, so im Mittelbau, irgendwo zwischen Bundesvorstand und Karteileiche? Als Genosse, der jeden Tag die Kuverts mit den Austrittserklärungen aufschlitzen muss?
Es muss verdammt wehtun. Verzweifelt versucht er immer noch und immer wieder zu verstehen, den einen klaren, guten Gedanken in all dem regierungsamtlichen Murks zu orten. Und scheitert. Morgens springt ihm der General Scholz aus der Zeitung an. Gnade, mon general! Abends leiert die Ulla aus Aachen über den Schirm. Aaah! Er möchte lachen und weinen und schreien, weil er ja irgendwie mitverantwortlich ist. Und kaum noch weiß, wofür.
Ab zur Sitzung des Ortsvereins. Beredtes Schweigen. Blicke wie Kinder, die müde im kalten Spinat stochern. Was tun? Alle schimpfen, murmelt einer. Rundum, brummt ein anderer, ist nur noch Verachtung. Beispiele folgen. Noch ein Bier, Karl. Bei der Arbeiterwohlfahrt raufen sie sich schon die Haare. Im Gewerkschaftshaus spucken sie auf uns. Der Schützenverein droht, auf uns anzulegen. Noch ein Bier, Karl, schnell.
„Irgendwann fehlt einfach die Energie, sich noch aufzuregen“, sagt ein Duisburger Ortsvereinsvorsitzender. Was uns nach NRW katapultiert, Stamm-, Kern- und Herzland der Sozialdemokratie: Da kommt Münte her – und traut sich kaum noch hin. Denn es ist wahrlich ein Trümmerfeld. Als Landesvater fungiert ein Trauerkloß mit stark norddeutschem Akzent, der Peer Steinbrück heißt, einen kultivierten Spardialog mit Roland Koch pflegt und – wie übrigens schon sein Vorgänger Wolfgang Clement – täglich den Eindruck zu verwischen sucht, Mitglied der SPD zu sein. So einer kann vielleicht Norderney erobern, aber gewiss nicht Nordrhein-Westfalen.
Im September sind hier Kommunalwahlen, im Frühjahr drauf Landtagswahlen. Man muss nicht Delphi heißen, um vorherzusagen, dass eine Katastrophe naht. Ein Ende der SPD as we know it. Mit leicht zusammengekniffenen Augen sieht man schon die lärmenden, japsenden Schlagzeilen: „Sturz …“, „Einbruch …“, „Erdrutsch …“, gefolgt von einer schwarzen Zweidrittelmehrheit im Bundesrat. Die taz wird schreiben: „SPD setzt Projekt 18 um.“ Schade drum. Denn die SPD ist nicht nur die älteste unserer Parteien, sie war auch manchmal ganz groß, stand für die Grundsehnsucht nach Gerechtigkeit und gegen den Kaiser, gegen die Nazis, gegen … Genug.
Noch immer hat die SPD ein Gewissen, sonst ginge es ihr jetzt nicht so schlecht. Sie stünde noch heute an der Seite der wirklich Schutzbedürftigen, viel mehr als die verbürgerlichten, westerwellisierten Grünen. Wenn sie denn überhaupt noch irgendwo stünde.
Das Problem: Sie steht nicht mehr, sie liegt flach. Das ist nicht allein Schröders Schuld, wir gedenken hier der Genossen Scharping und Engholm. Weniger, muss man auch sagen, des Oskar Lafontaine, der eine enorm überspreizte Erscheinung ist, aber eben auch genuin politisch. Ohne ihn hätte der Niedersachse nie gesiegt.
Es liegt ohnehin nicht nur am Vorsitzenden, wenn es den Sozis schlecht geht. Zur Unterwerfung gehören zwei. Aber es hilft, wenn der Chef einen Plan hat oder doch wenigstens die vorhandenen Kräfte bündelt. Schröder aber wurde nur Vorsitzender, weil da wieder ein Loch war, als Lafo türmte. Und Löcher müssen ruckzuck gestopft werden. Sonst zieht’s.
Gerhard Schröder, der Sohn eines Hilfsarbeiters im lippischen Mossenberg, aufgestiegen zum Vorsteher der großen alten Arbeiterpartei. Anfangs wird das für ihn auch Genugtuung gewesen sein, ein kleiner Triumph. Weil er ja oft genug trotz der Partei aufgestiegen war, im Nahkampf gegen starre Altvordere und böse Mit-Enkel. Bis zur Neige wurde in Schröder-Porträts sein jugendliches Rütteln am Zaun des Kanzleramtes ausgemalt. Viel prägender aber war für ihn seine Selbstbehauptung wider die SPD.
Kein Wunder, dass sein Respekt vor der Partei extrem begrenzt ist. Sicher wird der Kanzler-und-noch-Parteivorsitzende die SPD mehr mögen als die CDU, sich ihr womöglich sogar zugehörig fühlen. Aber seine Agenda heißt Schröder. Die Partei war in seinem Werdegang meist ein Ungetüm, das er bezwingen und in seine Richtung drehen musste. So ist Gerhard Schröder zum Anti-Genossen-Genosse geworden. Der setzt lieber noch eine Kommission vermeintlich hochrangiger Experten ein, als die Partei denken zu lassen. Und plaudert auch viel netter mit Piëch, Pierer und Co.
Der Mann hat einen Instinkt, der weidlich besungen wurde. Niemand aber hat je behauptet, er habe einen Plan. 1998 schrieb der große Jürgen Leinemann in jenem Spiegel, in dem heute die junge Mittelschicht gern ihre Zähne fletscht: „Inhalte? Keine Außenpolitik, keine deutsche Einheit. Nur Innovation und Gerechtigkeit, zwei Themen, die Schröder aufscheinen lässt wie Mondphasen. Nimmt das eine ab, nimmt das andere zu. Nur der Kandidat selbst bleibt immer rund und schön.“
Innovation und Gerechtigkeit, ja richtig, gepaart mit „neuer Mitte“. Es war dieser Wischiwaschi-Wahlkampf, der den Sieg brachte. Kohl war überreif – und fiel. Dann kam der „dritte Weg“, mit viel Brioni und Cohiba. Danach der Moderator mit der ruhigen Hand, dann lange gar nichts mehr. Die Wiederwahl rettete ihm die Flut. Aus ihr entstieg der Da-müssen-wir-durch-Kanzler. Das ist der Stand der Schröderei.
Doch keiner wusste je, wofür Schröder steht, das blieb stets Geheimnis. So top secret, dass selbst Schröder nicht eingeweiht schien. Er ist eben ein Wirkungskünstler. Das ist auch ein Talent. In besseren Zeiten hat er ein wenig an Bruno Ganz erinnert, mit viel Lausbubencharme. Er konnte dieses Wolfsgrinsen grinsen, entschlossen den Unterkiefer vorschieben. Gegen Stoiber reichte das so gerade noch.
Doch jetzt geht es ums Fundament der Republik. Natürlich, glassonnenklarlogo, das Land braucht Reformen. Gerade deshalb ist es so fatal, wenn die Politik längst nur mehr als Kulissenschieberei wahrgenommen wird, als Epilog zum großen Geschwafel, allein auf den Effekt kalkuliert. Schröder hat das heftig befördert. Am Anfang immerhin glaubten viele Leute, er würde es irgendwie besser machen. Später beteten sie, er möge überhaupt etwas tun. Jetzt wünschen sie, er ließe es lieber.
Die Agenda 2010 kam erst, als das Vertrauen schon futsch war. Als immer mehr beim Anblick dieses Kaisers dachten: Der hat ja gar nichts an! Schröder spürt das gewiss und hätte wohl gern eine Botschaft, eine Quintessenz, etwas Großes, Ganzes. Aber er hat nur noch Müntefering.
Sein letzter Joker? Wer weiß. Gestern sah Schröder sehr müde aus. Aber vielleicht kommt ja der Aufschwung. Oder ein Kanzlerkandidat Koch. Oder die lebenslange Sofortrente für alle. Glück hat er oft gehabt. Jetzt kann er den Schmidt spielen. Münte macht Brandt und Wehner, er schnarrt schon recht zackig. Und Olaf ist weg.
Gestern stand uns das Wasser bis zum Hals, Genossen. Heute sind wir schon einen Schluck weiter.