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Archiv-Artikel

New York ohne Amerikaner

Ab heute wird zurückprojiziert: Mit vier Filmen bildet Indien einen der großen Schwerpunkte im Forum. Ihr Sehnsuchtshorizont ist der Westen

VON BARBARA SCHWEIZERHOF

Auf der Weltkarte der Übertragungsfantasien, die die Popkultur beflügeln, nimmt Indien einen besonderen Platz ein. Ob Zuflucht für spirituell Bedürftige, Inspirationsquelle für Schmuck- und Modemacher oder campy Vorlage für den neuen Mut zum Kitsch – als Projektionsfläche für allerlei Sehnsüchte bildet der Subkontinent eine Konstante in der westlichen Alltagskultur. Wie mag das umgekehrt sein? Wer die Gelegenheit nutzt und sich die vier indischen Filme im Forum-Programm anschaut, kann eine erstaunliche Entdeckung machen: Die Phantasmen schauen zurück; der „Westen“ ist eine Konstante der indischen Alltagskultur.

Fast merkwürdig vertraut kommt einem das Zeitgeschichtsmelodram „A Thousand Dreams Such As These“ vor, obwohl es um einen ganz speziellen Abschnitt der indischen Geschichte geht: die rebellischen Siebziger. Zum einen ist da die Mode: Während sich die abendländischen Hippies also bevorzugt in indische Stoffe hüllten, orientieren sich die drei Collegefreunde, um die sich der Film dreht, mit Parka, Rollkragenpullover und olivgrünen Strickpullis ganz am strengen Revoluzzerlook des Westens. Zum anderen ist da die Dreiecksgeschichte, in der eine Frau sich zwischen einem Revolutionär und einem charmanten Konformisten entscheiden muss, die so etwas wie ein melodramatisches Passepartout für Historienfilme bildet.

Das Ende der gemeinsamen Studienzeit bringt die drei Freunde zunächst auseinander. Vikram, der Konformist, macht dank seinem einnehmenden Wesen schnell Karriere und hört doch nie auf, Geeta zu lieben. Die jedoch trägt das typische Schuldgefühl höherer Töchter vor sich her, zwar die weite Welt, aber nicht das Leben der eigenen Landsleute auf dem Dorf zu kennen, und neigt natürlich dem Revolutionär Siddarth zu. Dessen Herz wiederum gehört den fortschrittlichen politischen Ideen, die er um so radikaler umsetzen muss, da er Sohn aus wohlhabend-liberalem Hause ist.

Durch die unruhige Zeit der Siebziger hindurch verfolgt der Film das Liebesdreieck in immer wieder neuen Konstellationen, wobei ihm das seltene Kunststück gelingt, persönliches Melodram und historische Tragik so zu verbinden, dass sie sich gegenseitig spiegeln und nicht das eine als Gefühlsvorrat an das andere verfüttert wird.

In „Tomorrow May Not Be“, der im Indienschwerpunkt des Forums die Seite des „echten“ Bollywood vertritt, ist das genrebedingt natürlich anders. Auch hier steht eine Frau zwischen zwei Männern. Obwohl der Film gelobt wird wegen seiner Fortschrittlichkeit – er spielt komplett in New York –, hält er sich doch zugleich stur an die starren Formeln und abgegriffenen Tricks des „Song and Dance“-Kinos. So wird die Schöne mit Hilfe einer Brille am Anfang zur Unscheinbaren erklärt, der selbst der beste Freund keinen Sex-Appeal zusprechen mag.

„Tomorrow May Not Be“ spielt zwar in New York, aber in einem, in dem es keine Amerikaner gibt. Die rein indische Nachbarschaft ist denn auch eher mit den Zerwürfnissen des Heimatlandes – Gujarat versus Punjab und Christen versus Hindis – beschäftigt als mit den Konflikten ihres Wohnorts. Wenn sie sich gegenseitig vorhalten: „This is America!“, meinen sie nie mehr als eine merkwürdig unbestimmt bleibende „Modernität“.

So stellen alle vier Filme des Forums auf jeweils eigene Art ein „Crossover“ dar: Im Mafia-Drama „Maqpool“ verlegt Regisseur Vishal Bhardwaj die Handlung von Shakespeares „Macbeth“ in die Unterwelt des heutigen Indien. Damit nicht genug, beleiht er auch auf vielfache Weise Francis Ford Coppolas „Paten“, nicht zuletzt im melancholischen Grundton, mit dem hier der Generationenwechsel innerhalb des organisierten Verbrechens beklagt wird.

Vom Generationenwandel und den sich daraus abzeichnenden Konflikten handelt auch „Let The Wind Blow“, der die Auswirkungen der Globalisierung in Indien zeigen will. 54 Prozent der Inder sind unter 25 Jahre, es ist der jüngste Staat der Welt, was auch bedeutet, dass im Indien der Gegenwart so etwas wie eine Kulturrevolution stattfindet: Die Orientierung der Jungen in Richtung Westen verschiebt das traditionelle kulturelle Gefüge. „Let The Wind Blow“ zeigt vor allem die Gefahren, die von dieser Entwicklung ausgehen; der Westen mit seinen Konsumgütern ist hier eine Sirene, die die örtlichen Konflikte unheilvoll bestärkt. Was Globalisierung im Zerrspiegel alltagskultureller Projektionen wirklich bedeutet, lässt sich aus dem Kino allein allerdings nicht erschließen.