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Archiv-Artikel

Illegale Schmetterlinge

Monologe der Wut: Nurkan Erpulat findet für die „Schattenstimmen“ von Feridun Zaimoglu und Günter Senkel im Ballhaus Naunynstraße eine schäbige Schönheit

Sogar das Wetter spielt mit. Hier oben, unter dem Dachgebälk der Naunynstraße 27, hört man manchmal garstig den Wind heulen. Wir wissen noch nicht, dass wir gleich da draußen auf der Feuerleiter vier Stockwerke an der Fassade hinunter müssen. Das Geländer ist schon halb vereist.

Dass dies kein gemütlicher Guckkasten-Theaterabend werden würde, konnte man sich denken. „Schattenstimmen“ von Feridun Zaimoglu und Günter Senkel ist ein Text, der sich auch dem wohlwollenden Rezipienten heftig entgegenstemmt.

Die neun Monologe, aus denen er besteht, sind aus Interviews entstanden, die die Autoren mit illegalen Immigranten geführt haben. Regisseur Nurkan Erpulat beschränkt sich für die Inszenierung im Ballhaus Naunynstraße auf vier davon. Verzweiflung, Wut und trügerische Hoffnung grundieren ihre Stimmungslage. Polymorph perverse Lust- und Gewaltfantasien bilden ihren thematischen Bodensatz, ihren penetranten leitmotivischen Bocksgesang.

„Schattenstimmen“ ist kein Bühnenstück, dessen Inszenierbarkeit ihm bereits eingeschrieben wäre. Einerseits braucht es, um erfahrbar zu werden, die theatrale Dimension; in seiner offensiven Drastik aber gibt es sich sehr hermetisch. Zweimal – in Köln und in Kassel – wurde der Text bisher auf die Bühne gebracht, jeweils mit ziemlich bescheidenem Erfolg. Doch dieses Mal gelingt es einem, das extreme Wortwerk zu transformieren in ein Theaterereignis voll schäbiger Schönheit, Traurigkeit und Poesie. Nurkan Erpulat tut etwas sehr Einfaches und nimmt den Monolog als Form ernst. Es gibt keinen gemeinsamen Raum für die vier Darsteller. Jeder erhält seinen eigenen Ort: Der zugige Dachboden, der finstere Keller, das enge Kämmerchen sind Orte perfekter Isolation, ihre abseitige Lage ein Bild für die unsichtbare Existenz am Rand der Gesellschaft.

Dort begegnen sie dem Publikum: der Tellerspüler, der Dealer, der identitätskranke afrikanische Schwule. Der vierte Raum liegt mitten im Haus, quasi verborgen innerhalb der Gesellschaft: ein großes, warm beheiztes Studio, bevölkert von lebendigen Schmetterlingen, die gegen die Scheinwerfer flattern und sich auf menschlichen Gliedmaßen niederlassen. Dies ist der Platz der Prostituierten, die, sagt sie, freiwillig ins Land gekommen ist, ihren Job gern macht und auch ihren perversen Zuhälter in Ordnung findet.

Dass ihr Monolog an Trostlosigkeit kaum zu überbieten ist, liegt auch an den Schmetterlingen. Und daran, dass ein Mann (Murat Seven) sie spielt – abgesehen von der Unterhose nur angetan mit den Macho-Insignien Goldkettchen, Dreitagebart und Cowboystiefel. Dafür wird der afrikanische Dealer von einer Frau (Vernesa Berbo) dargestellt, die einen künstlichen Schwangerschaftsbauch trägt und permanent Fahrrad fahren muss, da der Dynamo die Raumbeleuchtung speist. Ein Schwarzer (Aloysius Itoka) gibt den Araber, während ein Weißer (Michael Wenzlaff) den Monolog des schwulen Afrikaners spricht, dies allerdings im stockfinsteren Keller. Die Stimmen und Identitäten sind austauschbar, eine steht für viele, Individualität ist eine Schimäre. Irritierend.

Die Zuschauer werden in vier Gruppen durchs Haus gelotst und erleben die Stationen in unterschiedlicher Reihenfolge. Den Schauspielern verlangt die Inszenierung einen unglaublichen Kraftakt ab, denn jeder Monolog von jeweils gut zwanzig Minuten will viermal hintereinander absolviert werden. Bei aller Bewunderung für ihre Leistung werden die unguten Gefühle davon nicht weniger.

Wenn man zum Schluss hin so allmählich müde und stumpf wird von all diesem gewaltgesättigten, den Menschen auf roheste Triebhaftigkeit zurückwerfenden Reden, findet Erpulat einen schönen, stillen Epilog. Alle Schauspieler finden zusammen im großen Saal. Hier, als Nachspiel auf dem Theater, darf der Abend jetzt ausklingen in kleinen, wortlosen Gesten der Zärtlichkeit und Zugehörigkeit. Deren vorherige Abwesenheit wird dadurch erst so recht spürbar.

KATHARINA GRANZIN

Wieder 24.–26. 11., 20 Uhr, Ballhaus Naunynstraße