: Gott will nicht allein sein
Für die einen war sie eine Heilige, für die anderen ein rotes Tuch: An der evangelischen Theologin Dorothee Sölle schieden sich die Geister
von REINHARD MAWICK
Irgendwann hat sie es aufgegeben. Irgendwann ging sie dazu über, „Schriftstellerin“ statt „Theologin“ in die Formulare von Tagungsstätten oder Hotels einzutragen, in denen nach dem „Beruf“ gefragt wurde. Zwar verstand sich Dorothee Sölle natürlich als Theologin – in dem Sinne, dass sie nachdachte über Gott und die Welt, und zwar mit einer ganz tiefen Verbundenheit zur jüdisch-christlichen Tradition. Aber ihr Geld hat sie im Gegensatz zu den meisten anderen Theologinnen und Theologen in Deutschland nie bei der Kirche verdient. Sölle: „Ich war da nie angestellt, weder bei der Kirche noch als ordentliche Professorin an einer deutschen theologischen Fakultät.“
Als Dorothee Sölle das feststellte, tat sie es ohne Bitterkeit. Sie sei froh, dass ihr viel Ärger und Schreibkram erspart geblieben sei, den so eine ordentliche Professur mit sich bringe. Über solche Dinge habe sie ihren Mann Fulbert Steffensky, bis 1998 Professor für Religionspädagogik in Hamburg, oft stöhnen hören. Und trotz dieser erzwungenen Abstinenz von der deutschen Universität hatte Dorothee Sölle auch immer wieder befristete Lehraufträge wahrgenommen, zum Beispiel in Mainz und Basel. 1975 bis 1987 war sie Professorin am „Union Theological Seminary“ in New York. Aber für eine ordentliche Professorin Sölle war der deutsche Theologiebetrieb wohl einfach nicht reif.
Denn Dorothee Sölle hatte sich zeitlebens wenig um Etikette gekümmert. Sie konnte nie etwas anfangen mit der sauberen Trennung zwischen Theologie als Wissenschaft auf der einen und christlicher Lebenspraxis auf der anderen Seite. Es ist über dreißig Jahre her, dass Dorothee Sölle zum ersten Mal in das Bewusstsein einer größeren Öffentlichkeit rückte. In Köln traf sich regelmäßig ein Kreis von evangelischen und katholischen Theologen, die über das Glaubensbekenntnis diskutieren wollten. Dorothee Sölle: „Irgendwann dämmerte es uns, dass wir uns nicht nur theoretisch mit theologischen Fragen beschäftigen durften, sondern dass diese Beschäftigung in eine Art Praxis einmünden muss.“ Eines Tages beschloss die Gruppe, eine Prozession durch Kölns Innenstadt zu machen unter dem Motto „Vietnam ist Golgatha“. Das Credo der Gruppe: Jeder theologische Satz muss zugleich ein politischer sein. Das Aufsehen war groß, denn damals war die Öffentlichkeit solche Aktionen von Christen überhaupt nicht gewohnt.
Als die Gruppe ihre spezielle Liturgie im Jahre 1968 auf dem Katholikentag in Essen halten wollte, schoben die Organisatoren die Veranstaltung auf 23 Uhr abends. Aus dieser Not machte die Gruppe eine Tugend und nannte ihre Gottesdienste „Politisches Nachtgebet“. Fortan galt Dorothee Sölle in weiten Kreisen als linksradikal.
Bereits 1965 hatte sie mit ihrer ersten größeren Veröffentlichung „Stellvertretung. Ein Kapitel Theologie nach dem Tode Gottes“ aufhorchen lassen. Der provokante Titel, dem andere wie „Atheistisch an Gott glauben“ (1968) folgten, schreckte Traditionalisten ab. Als Sölle dann 1969 Fulbert Steffensky, einen Benediktinermönch, heiratete, war für viele das Maß voll. „Niedergefahren zur Sölle!“ – so urteilten in grimmiger Umdichtung des Glaubensbekenntnisses konservative Christen über sie und ihre Gedanken. Auf solche Kritik angesprochen, zuckte sie mit den Schultern: „Die Hauptangriffe habe ich von Leuten erfahren, die nie eine Zeile von mir gelesen haben und mich einfach so abstempelten, weil sie gehört hatten, ich würde eine Gott-ist-tot-Theologie vertreten.“
In einem rastlosen Aktivismus sah allerdings auch Dorothee Sölle kein Heil. Gerade der untrennbare Zusammenhang zwischen Engagement und Glauben war es, der sie umtrieb. „Mystik und Widerstand“ hieß ihr großes Werk, das 1997 erschien. Dort sichtete sie die großen mystischen Traditionen, und zwar nicht nur die christlichen. Mit konfessionellen Gegensätzen konnte Dorothee Sölle sowieso immer weniger anfangen. So schrieb sie: „Die Anhänger der verschiedensten Religionen werden angezogen von diesem X im Herzen der Welt, dem sie Namen wie Allah, Urmutter, der Ewige, Nirwana, das Unerforschliche gegeben haben.“ Wieder so ein Satz, mit dem sich die streitbare Theologin in gewissen Kreisen keine Freunde machte. Aber für sie, für die Theologie immer ganz eng mit Erfahrung verknüpft war, wurden Begriffe sowieso immer unwichtiger. Eins allerdings fand sie schade: dass – obwohl die meisten ihrer Bücher sich gut verkauften und bereits Generationen von Pfarrerinnen und Pfarrern mit Sölles theologischem Denken aufgewachsen sind, obwohl Tausende ihre Bibelarbeiten auf Kirchentagen gehört haben –, dass Teile der Fachtheologie sie trotzdem ignorierten.