Schweine, ihr verdammten Schweine

Sinnloses Gebrabbel im öffentlichen Raum: Nirgendwo reden mehr Leute mit sich selbst oder höheren Wesen als in Berlin. Eine kleine Typologie

Neulich habe ich auf der Straße eine Frau gesehen. Das ist an und für sich noch nichts Ungewöhnliches, denn meiner statistischen Erfahrung nach ist ungefähr jeder zweite Passant eine Frau. Die Frau ging an mir vorüber und brabbelte laut vor sich hin. Auch das war noch ganz normal. In Berlin brabbelt eigentlich ständig irgendjemand vor sich hin. Ich kenne keinen anderen Ort, an dem das sinnlose Gebrabbel im öffentlichen Raum auch nur annähernd diese Verbreitung findet. Berlin ist die Welthauptstadt der Vor-sich-hin-Brabbler und speziell im südöstlichen Innenstadtbereich wird die Kunst in einem Maße gepflegt, dass es die reinste Freude ist.

Das Besondere an der Frau war allerdings, dass sie auf eine sehr nüchtern und konzentriert wirkende Art vor sich hin brabbelte, offenbar zusätzlich Antworten aus dem eigenen Kopf empfing und auf diese wiederum sachlich einging, während der gewöhnliche Brabbler ein eher barockes Verhältnis zu seinem Gebrabbel pflegt. Das klassische Gebrabbel ist komplett sinnfrei. Erlaubt ist, was gefällt: Gemurmel, Gestammel oder Gebrüll – Hauptsache schwer verständlich. Zusammenhänge mit tatsächlichen Geschehnissen sind verboten. Beliebte Standardtexte sind „Mann, Mann, Mann“, „Scheiße, alles Scheiße“, „Schweine, ihr verdammten Schweine“, „Ich bringe euch alle um“ oder auch – neu in den Charts – „Wir holen uns unseren Schatz“. Eine kürzlich veröffentlichte Studie beschreibt Selbstgespräche wegen ihrer Ventilfunktion für die Psyche als sehr gesund.

Es gibt verschiedene Brabbler-Typen. Der „Bruddler“ verzichtet völlig auf den Inhalt und legt alles in die Form. Er hat, meist in langjähriger Arbeit, eine Art Kunstsprache entwickelt, ein monotones Gebell, mit dem er seine Umgebung auf eher unaufdringlich zurückhaltende Weise dauerberieselt. Ganz anders der „Politpsychopath“: Dieser betreibt, vorzugsweise schreiend, Mundpropaganda. Zu Hause hat er zwei Wellensittiche, Adolf und Eva, denen er beigebracht hat, auf Kommando den rechten Flügel zu heben und Selbstgespräche antisemitischen Inhalts zu führen.

Es gibt rechte und linke Politpsychopathen – nicht selten sehe ich, wie zwei Menschen, ohne dem jeweils anderen auch nur einen Funken Beachtung zu schenken, aneinander vorübergehen, während der eine „Türken, überall Scheißtürken“ und der andere „Ich kriege euch, ihr verdammten Nazischweine“ brabbelt. Ebenfalls häufig sind der „Paranoiker“ und der „Schizophrene“ – gerne in Personalunion, brabbeln sie am liebsten in der Nähe von U-Bahn-Eingängen: „Scheiße … Scheiße ist das … Paranoia … das soll keiner mitkriegen, dass ich Paranoia hab. Keiner soll das mitkriegen! Mann, Mann, Mann …“. Darüber hinaus gibt es den „Statistiker“, zu dieser Gruppe gehöre auch ich – das gebe ich durchaus zu.

Auf Spaziergängen durch belebte Straßen registriere ich die Leute, die mir entgegenkommen, laut nach Gruppen. Zum Beispiel Ausländer gegen Deutsche. „Achtunddreißig zu siebenundzwanzig“, brabble ich dann, „nein, neununddreißig zu, nein, vierzig zu sieben-, nein zu achtundzwanzig“. Das ist ein ganz schöner Stress – das glaubt mir manchmal keiner. Die Zweifler vergessen oft, dass ich ja gleichzeitig auch noch darauf achten muss, nicht auf die Ritzen zwischen den Gehwegplatten zu treten.

Auch Frauen gegen Männer zähle ich gerne – daher weiß ich nämlich, dass jeder zweite Passant ein Mann ist. Wichtig ist es, die Ausländer und Frauen jeweils an erster Stelle zu brabbeln, um den Verdacht von Rassismus und Sexismus zu vermeiden: neutrale Wissenschaften dienen ohnehin schon oft genug als geknebelte Sklaven oder gar willfährige Metzen eines skrupellosen Systems. Statistiken wie „Einbeinige gegen Zweibeinige“ erstelle ich dagegen nie: Ich will schließlich ein spannendes Match.

Eine eher seltene Form des Brabblers ist der „Haus-Brabbler“. Nicht weit von mir gibt es so einen. Er wohnt im vierten Stock und das Fenster ist ständig geöffnet. Wann immer ich dort vorbeikomme, krächzt er alle halbe Minute „Hau ab“. Kurzes Gebrabbel schließt sich an, dann Stille. Nach einer halben Minute wieder: „Hau ab.“ Gebrabbel. Stille. Um elf Uhr abends, um ein Uhr nachts, um fünf Uhr morgens – fast rund um die Uhr. Nur tagsüber scheint er manchmal kurz Pause zu machen. So geht das seit Jahren jeden Tag. Der sozialpsychiatrische Dienst in Neukölln kann sich nur um die schwer wiegenden Fälle kümmern – vielleicht nehmen ihn ja wenigstens „StattReisen“ mit in ihr Führungsprogramm auf.

Übrigens unterschied die konzentriert brabbelnde Frau noch etwas anderes von ihren improvisationsfreudigeren Kollegen. Sie hatte nämlich einen Kopfhörer im Ohr und sprach mit Gott oder einer Freundin: Wunder der Technik. ULI HANNEMANN