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Archiv-Artikel

GEW findet Kieler Bildungsreform gut – und blockiert sie

Kultusministerin Erdsiek-Rave will in Schleswig-Holstein maßgeschneiderte Lernpläne einführen. Lehrer werfen ihr Politbüromethoden vor

KIEL taz ■ Wenn es nach Kultusministerin Ute Erdsiek-Rave (SPD) geht, wartet auf Schleswig-Holsteins Schüler bald ein Kulturschock. Die Lehrer sollen nicht mehr all ihre Schüler über einen Kamm scheren, sondern für jedes Kind einen maßgeschneiderten Lernplan entwerfen. Nach den Sommerferien soll es losgehen. „Das Fördern und Fordern des einzelnen Schülers kommt an unseren Schulen manchmal zu kurz“, hat sie erkannt.

Der neue individuelle Masterplan beschreibt die Stärken und Schwächen jedes Kindes. Und hält fest, welche Fördermaßnahmen helfen können. Alle Beteiligten müssen das Papier unterschreiben. Mit einem Schulstempel wird es dann amtlich besiegelt. Jedes halbe Jahr von der dritten bis zur sechsten Klasse sollen die Akteure den Lernplan fortschreiben. Das neue Mittel, so lobt Erdsiek-Rave, „ist im Gegensatz zum Notenzeugnis nicht rückwärts gewandt, sondern richtet den Blick nach vorne“. Der Wandel der Lehrerrolle von der Auslese hin zur persönlichen Beratung wirkt wie eine Blaupause aus dem Lehrbuch der Reformpädagogik. Die vermeintlich progressiven Kräfte an den Schulen, sollte man meinen, müssten froh sein. Sind sie aber nicht.

Sinnvolles Hilfsmittel

„Natürlich wissen wir nicht erst seit Pisa, dass wir neue Instrumente der pädagogischen Diagnose brauchen“, sagt etwa Bernd Schauer, Geschäftsführer der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in Schleswig-Holstein. „Persönliche Lernpläne, die Schüler, Eltern und Lehrer schriftlich vereinbaren, könnten da ein gutes Hilfsmittel sein“, findet er. Und trotzdem lehnt die GEW die Verordnung der Ministerin ab: zu bürokratisch und zu aufwendig, lautet ihr Verdikt. Zusätzliche Klassenkonferenzen und Lernplangespräche, so die GEW, seien bei der jetzigen Arbeitsbelastung der Lehrer unzumutbar. Dem Erlass will die Gewerkschaft nur zustimmen, wenn Lehrer die Lernpläne lediglich einmal im Schuljahr schreiben müssen – und das Land auf Halbjahreszeugnisse künftig ganz verzichtet.

Auch an der Basis regt sich Unmut. Das Kollegium der Integrierten Gesamtschule in Eckernförde etwa sah sich veranlasst, einen geharnischten Brief an die Kultusministerin zu veröffentlichen. Mit ungläubigem Entsetzen habe man den Erlass gelesen. Zwar habe Erdsiek-Rave Recht, wenn sie meine, dass eine stärkere individuelle Förderung jedes Schülers das dringendste Mittel sei, um den Unterricht qualitativ zu verbessern. „Das geht aber nur, wenn genügend Zeit zur Verfügung steht.“

Die Gesamtschullehrer machen eine simple Rechnung auf. Pro Kind brauche ein Lehrer gut drei Stunden, um einen Lernplan zu schreiben. Bei einer Klasse mit 26 Schülern mache das für zwei Pläne im Jahr insgesamt 156 Stunden Mehrarbeit aus. „Das entspricht einer Arbeitszeit von vier Wochen eines Angestellten. Das ist nicht mehr leistbar.“ Der Erlass der Ministerin könne nur Wirklichkeit werden, wenn die Rahmenbedingungen an den Schulen stimmen. Was das bedeutet, sagen die Gesamtschullehrer auch: Lerngruppen mit 15 Schülern und weniger Unterricht für die Pauker, 20 statt bisher 26 Stunden. Forderungen, die in dem chronisch klammen Schleswig-Holstein kaum umsetzbar sind.

Nicht allen Lehrern schmeckt das Vorgehen der Eckernförder Kollegen. Der Protest sei falsch, sagt ein Flensburger Pädagoge. Denn die Lernpläne böten die Chance, ein neues Lehrerbild zu entwickeln. Mit ihrer Hilfe könnten sich die Lehrer zu Beratern wandeln, die die Kinder mit ihren persönlichen Stärken und Schwächen fördern. „Mit ihrem Schreiben unterstützen die Eckernförder eine nörgelnde, konservative Lehrerschaft, die diesen Rollenwechsel einfach nicht möchte“, meint er.

Gutwillige vergrätzt

Doch auch diese Gutwilligen hat die Ministerin vergrätzt. „Das Ministerium arbeitet wie ein Politbüro. Es gibt Direktiven von oben“, schimpft er. Wie Lernpläne aussehen, wie oft sie anzufertigen sind, wer sie unterschreiben soll, all das sei penibel festgelegt. Die schriftliche Abzeichnung des Lernplans wirke wie eine polizeiliche Vorführung. Lehrer, Eltern und Schüler würden nicht ausreichend eingebunden. „Wenn Lehrer und Eltern da nicht mitspielen, werden die Lernpläne zum Flop. Und das, obwohl sie ja ein vernünftiger Ansatz zur Individualisierung sind“, sagt der Pädagoge.

Im Kultusministerium hat man auf die harsche Kritik inzwischen reagiert. Nicht für jedes Kind, heißt es auf einmal, müsse man künftig zwingend ein Lernplan schreiben, sondern nur für besonders begabte und schwache Schüler. Wer in diese Kategorie fällt, sollen die Klassenkonferenzen selbst entscheiden. Von der Reform bliebe dann allerdings nur ein Torso übrig. „Damit besteht die Gefahr“, bedauert da auch Gewerkschaftsfunktionär Schauer, „dass kaum noch eine Schule diese Lernpläne wirklich schreibt“.

MATTHIAS ANBUHL

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