Denn sie wissen, was sie tun

LUDGER HEIDBRINK, geboren 1961, studierte Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte in Münster und Hamburg. Seit 2007 ist er Direktor des Center for Responsibility Research am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen (www.responsibility-research.de). Publikationsauswahl: „Verantwortung als marktwirtschaftliches Prinzip. Zum Verhältnis von Moral und Ökonomie“, zus. mit Alfred Hirsch, Campus Verlag, Frankfurt/New York 2008; „Handeln in der Ungewissheit. Paradoxien der Verantwortung“, Kadmos Verlag, Berlin 2007; „Das Ende der Bescheidenheit. Zur Verbesserung der Kultur- und Geisteswissenschaft, zus. mit Harald Welzer, C. H. Beck Verlag, München 2007; „Staat ohne Verantwortung? Zum Wandel der Aufgaben von Staat und Politik“, zus. mit Alfred Hirsch, Campus Verlag, Frankfurt/New York 2007. „Verantwortung in der Zivilgesellschaft. Zur Konjunktur eines widersprüchlichen Prinzips“, zus. mit Alfred Hirsch, Campus Verlag, Frankfurt/New York 2006 Weiterführende Konsum-Links: www.utopia.de (Internetportal für strategischen Konsum); www.codecheck.ch (unabhängige Produktinformation durch Strichcodes); www.ecotopten.de (neue ökologische Produkte), www.test.de (Stiftung Warentest)

Der Philosoph Ludger Heidbrink über die Tücken, Mühen und Reize des verantwortungsvollen Konsumierens, die Abgründe der Gewissenswellness und den Zeitpunkt während des Shoppings, zu dem das Gewissen schon mal auf der Strecke bleibt: Einkaufen ist längst zu einer moralischen Handlung avanciert – und das nicht bloß im Sinne der Wirtschaftsförderung

INTERVIEW GINA BUCHER

taz.mag: Herr Heidbrink, Sie haben kürzlich ein Buch zum Verhältnis von Moral und Ökonomie veröffentlicht – ganz aktuell soll nun der Bürger auch noch die Wirtschaft retten, indem er möglichst viel einkauft. Wie steht es nun aber wirklich um die Moral an der Ladenkasse?

Ludger Heidbrink: In letzter Zeit hat sich eine Art moralische Wende auf dem Markt vollzogen, einige sprechen sogar von der „Moralisierung des Marktes“. Die Güter und Produkte, die wir kaufen, sind mit Fairtrade-, Bio-, oder Ökosiegel versehen und stehen für Umweltschutz oder gerechte Arbeitsbedingungen. Die Situation ist eigentlich sehr komfortabel, der Konsument von heute verfügt über gute Möglichkeiten, sich zu informieren – sofern er das will.

Es sei denn, das Unternehmen versteckt sich hinter leeren Floskeln. Die amerikanische Bekleidungsfirma American Apparel etwa erfüllt ihre gepriesenen sozialen und biologischen Standards erst in der letzten Stufe der Produktion. Solche Prozesse sind für den Konsumenten schwer zu durchschauen, es bleibt oft keine andere Wahl, als sich blind auf Labels oder Siegel zu verlassen.

Das ist die Kehrseite der Information. Man muss sehr genau hinschauen, wofür bestimmte Siegel stehen, die ja teilweise die Unternehmen in Eigenregie vergeben. Und trotz neutraler Siegel, etwa vom TÜV oder der EU-Kommission, ist es für den Verbraucher oft schwierig, die Qualität der Siegel zu beurteilen. Viele Verbraucherverbände sagen deshalb, der Konsument ist überfordert, weil er zu viele Informationen hat.

Voraussetzung für moralisch bewussten Konsum ist also nicht nur ein informierter, sondern auch ein aktiver Konsument?

Es genügt nicht mehr, sich hinzusetzen, der Werbung zu lauschen, um danach in einem Geschäft das Gepriesene zu kaufen. Auch wenn die Werbung das Produkt als moralisch integer präsentiert. Genau genommen muss ich mich vor oder nach dem Einkauf informieren, ob auch alles stimmt. Es geht also darum, beim Konsumenten ein aktives Verantwortungsbewusstsein zu erzeugen. Deshalb unterscheide ich zwischen dem moralischen und dem verantwortlichen Konsumenten. Denn der moralische Konsument ist noch lange kein verantwortlicher. Ersterer kauft moralisch gekennzeichnete Produkte. Der verantwortliche Konsument aber geht weiter und überlegt, ob die moralisch gelabelten Produkte diesen Ansprüchen auch tatsächlich genügen. Das wäre verantwortungsgeleitetes Einkaufen. Diese Unterscheidung halte ich für sehr wichtig.

Der moralische Konsument beruhigt lediglich sein schlechtes Gewissen?

Er verlässt sich zumindest auf die vorhandenen Informationen und vertraut Labels oder Siegeln. Sicherlich hat er eine moralische Grundeinstellung, er versucht, sozial- und umweltverträglich einzukaufen. Allerdings ist er nicht immer bereit, die Energie zu investieren, die der verantwortliche Konsument aufwendet, um sich genauer zu informieren und Nebenfolgen zu berücksichtigen. Kritische Stimmen sagen deshalb: Der Trend zum moralischen Konsum führt zu einem bloßen Konsum der Moral. Durch den Kauf ethisch gekennzeichneter Waren wird eine Art Gewissenswellness betrieben. Ein Beispiel sind CO2-Abgaben bei Flügen, die man sich in Form von Greenmiles nach dem fünftägigen Südseeurlaub gutschreiben kann. Damit beruhigt man zwar sein Gewissen, produziert aber dennoch CO2. Solche Angebote setzen nicht an der Wurzel an, sondern am Resultat.

Wie mächtig ist denn das schlechte Gewissen?

Das hängt sehr stark vom Einzelnen ab, der die Kraft aufbringt, über die schädlichen Folgen seines Konsums nachzudenken. Das ist eine Frage der Sozialisation und des kulturellen Umfelds, in dem man lebt.

Je mehr ich die Qual der Wahl im angebotsreichen Supermarkt habe, desto mehr Verantwortung trage ich?

Ja, das ist in der Tat so. Es gibt einen Zusammenhang zwischen Freiheit und Verantwortung: Je freier wir sind, desto mehr Verantwortung erfordert unser Handeln. Und umgekehrt setzt Verantwortung natürlich auch Freiheit voraus: Wo ich gezwungen werde, etwas zu tun, ist es schwierig, Verantwortung einzufordern.

Was also bedeutet Moral in unserem Alltag: beim Einkaufen, beim Reisen oder beim Heizen?

Moral bedeutet vor allem, auf die Folgen des eigenen Handelns zu achten, die mit allgemeinen Grundsätzen des Zusammenlebens vereinbar sein müssen. Deshalb rede ich lieber von Verantwortung als von Moral.

Und wie kann ich bei einem Einkauf mögliche Folgen meines Konsums abschätzen?

Es geht darum, Zielkonflikte und Unsicherheiten im Auge zu behalten: Fliege ich nicht nach Bali, um die Umwelt zu schonen, leidet dort der Tourismus. Tanke ich Biosprit, geht dies auf Kosten der Landwirtschaft. Verbrauche ich Ökostrom, muss ich schauen, wie weit dort tatsächlich regenerative Energien benutzt worden sind oder nur Zertifikate aufgekauft wurden.

Viele Davids gegen wenige Goliaths: Wie mächtig ist der Einzelne in einer zunehmend globalisierten Welt?

Der Konsument ist in gewissem Sinn ein schlummernder Riese. Er ist eine potenzielle Macht, die aktiviert werden muss. Dazu muss er sich seiner Macht bewusst werden, was bisher nur in Ansätzen geschehen ist.

Wie erklären Sie sich das?

Das hat unterschiedliche Gründe. Viele Konsumenten glauben, sie würden von Unternehmen manipuliert. Meiner Ansicht nach ist es falsch, vom manipulierten Kunden zu sprechen nach dem Motto „Dort sind die bösen Unternehmen, hier die guten Konsumenten“. So funktioniert das Spiel nicht, da die Verbraucher sehr wohl wissen, was sie tun müssten. Was fehlt, ist die Bereitschaft zum Handeln. Dazu braucht es eine bessere Aufklärung, die zum Ausgang aus der selbst verschuldeten Untätigkeit führt.

Wissen allein ist aber noch keine Tat.

Das Problem besteht darin, dass es häufig sehr anstrengend ist, die richtigen Einsichten in die Praxis umzusetzen. Man muss sich beim Einkaufen einem ständigen Informationsstress aussetzen: Soll ich jetzt besser den Apfel aus Italien oder den aus regionalem Anbau kaufen? Kaffee mit Bio- oder Fairtradesiegel? Letztlich legen die meisten den erstbesten Apfel in ihren Warenkorb. Außerdem gibt es das Problem, dass nachhaltiger Konsum einen gewissen Wohlstand voraussetzt.

Warum entscheiden die meisten im Laden nach anderen Kriterien, obwohl sich viele laut Studien über Sinn und Unsinn beim Einkaufen durchaus bewusst sind?

Dieses Phänomen bezeichnet man als „Mind-Behavior Gap“. Gemeint ist damit die Kluft zwischen Einsicht und Verhalten. Laut Umfragen nimmt das moralische Konsumbewusstsein zu. Merkwürdigerweise versagt es aber in dem Moment, in dem man an der Kasse steht. Nur fünfzehn bis zwanzig Prozent der Konsumenten sind bereit, mehr Geld für nachhaltige Produkte auszugeben.

Das heißt, Moral ist Luxus?

In gewisser Weise ja. Denn Moral erfordert bestimmte Ressourcen, die man mitbringen muss, um moralisch handeln zu können. Das darf aber nicht überdramatisiert werden, denn sonst dient es als Alibi dafür, nicht moralisch einzukaufen. Deshalb ist das Luxusargument mit Vorsicht zu genießen. Mit einer gewissen Selbstdisziplin sind wir sehr wohl in der Lage, sozial- und umweltverträglich einzukaufen. Verantwortlicher Konsum lässt sich trainieren. Es muss zur Gewohnheit werden, dass man klimaneutrale Blumen kauft, auch wenn es etwas teurer ist.

Vertrauen Sie dem Gewissenshaushalt der Konsumenten, dass sie künftig verantwortungsvoll einkaufen werden?

Da bin ich als Realist skeptisch, weil ich weiß, wie schwierig es ist, den angesprochenen „Mind-Behavior Gap“ zu überwinden. Das liegt daran, dass wir meistens eher unsere eigenen Vorteile als die der Gesellschaft verfolgen. Der verantwortliche Konsum ist momentan noch eine Utopie. Da hoffe ich auf die Unterstützung der Politik und Aufklärung durch die Medien. Natürlich sind auch die Unternehmen gefordert, mehr nachhaltige Güter zu akzeptablen Preisen auf den Markt zu bringen.

Dass wir nicht so handeln, wie wir es gerne tun würden – ist das strukturell bedingt?

Ich denke, dass der Konsumkapitalismus den „Gap“ forciert. Das bringt das Wettbewerbsprinzip des Marktliberalismus mit sich. Man tritt in Konkurrenz zu anderen, muss Leistung erbringen, sich günstig und gleichzeitig erfolgreich auf dem Markt verkaufen können. Gleichzeitig weckt der Konsumkapitalismus das Bedürfnis nach immer neuen Waren, deren Reiz sich umso schneller verbraucht, je kurzlebiger die Produktzyklen sind. Denken Sie daran, wie schnell heute die Handy- oder Automodelle wechseln. Der Konsument befindet sich in einer Zwickmühle zwischen Kaufanreizen und moralischen Skrupeln, die zu einer subjektiven Überforderung führen kann. Also wählt er die Exit-Option und wirft seine Ideale über Bord. Dies wird durch die Anonymität der kapitalistischen Gesellschaft verstärkt, die keine unmittelbare Kontrolle auf das Verhalten des Einzelnen ausübt. In Gesellschaften, die eher familiär aufgebaut oder gemeinschaftlich organisiert sind, findet eine direktere Einflussnahme statt. Die Versuchung, sich über die Interessen anderer hinwegzusetzen, ist kleiner. Nur leben wir eben nicht in so einer Gesellschaft.

Sie haben über Verantwortungskulturen geforscht. Welche Kultur haben wir in Europa, welche herrscht in den USA vor?

In Europa gibt es eine weniger entwickelte Kultur des sogenannten Citizenship, des bürgerschaftlichen Engagements. Das gilt auch für die Kultur des „Consumer Citizenship“, in der sich der Konsument als Teil der Gesellschaft begreift. Ebenso betrifft dies Unternehmen und die Kultur des „Corporate Citizenship“. Bürgerschaftliches Engagement ist stärker in den USA als in Europa ausgeprägt. Besonders in Ländern wie Deutschland, Frankreich und Italien dominiert traditionell eine stark staatlich geprägte Kultur der öffentlichen Wohlfahrt, in der die Beseitigung von Problemen in der Gesellschaft eine Aufgabe des Staates ist.

An welchen Werten orientieren wir uns beim Konsum?

Grünes Bewusstsein ist zum Glück gerade sehr en vogue. Die sogenannten Bobos oder Lohas sind beispielhaft für diesen Lebensstil. Bis in die Siebziger Jahre war die gängige Meinung, dass sich der Kapitalismus nicht mit einem radikalen Selbstverwirklichungswillen verträgt. Inzwischen wissen wir, dass Konsumismus und alternative oder rebellische Lebensformen gut zusammenpassen. Rebellion gegen den Konsum ist letztlich nichts anderes als die Fortsetzung des Konsums mit anderen Mitteln. Das zeigt sich heute im Zusammentreffen von alternativen, ehemals linken Einstellungen mit stark konsumorientierten Lebensstilen. Die „Neo-Greens“ sind vor allem in den USA zu Vorreitern einer neuen ökologischen Avantgarde geworden. Weil Stars wie George Clooney ein Hybridauto fahren oder Brad Pitt sich ein Ökohaus baut, ist es auch bei uns ein Trend, moralisch am Markt zu agieren.

Trends sind vergänglich – was passiert danach mit der Moral?

Zuerst stellt sich die Frage, wie moralisch ein Trend tatsächlich ist. Oft verbirgt sich hinter dem moralischen Verhalten reines Eigeninteresse, weil es dem Lebensgefühl entgegenkommt. Die Moral kann auch das berühmte Sahnehäubchen auf unmoralischen Aktivitäten sein. Allerdings besteht auch die Möglichkeit, dass die ethische Mode sich in alltagspraktische Gewohnheiten verwandelt – und die Moral sozusagen habitualisiert wird.

Wird der Trend nicht auch dann zum Problem, wenn Unternehmen diesem folgen und unter dem Vorwand der Moral bloßes „Greenwashing“ betreiben?

Die Vermarktung von Produkten unter grünen Vorzeichen, das sogenannte Greenwashing, ist in der Tat zwiespältig. Interessanterweise spricht man momentan mehr von „Bluewashing“. Heute geht es nicht mehr nur um die Natur, sondern um den gesamten Globus, deshalb dominiert Blau die Werbung. VW zum Beispiel vermarktet seine besonders sparsamen Autos unter dem Label „Bluemotion“. Letztlich geht es dabei um nichts anderes, als Produkte für den Markt attraktiv zu machen. Solche PR-Strategien werden dann heikel, wenn sie ökologische oder soziale Schäden verschleiern sollen.

Was passiert wenn die Konjunktur einbricht, verliert dann auch das Bewusstsein an Bedeutung?

Das hängt davon ab, ob der moralische Markttrend einen Schwellenwert erreicht hat und die Leute aus eigenem Antrieb bereit sind, mehr Geld für moralische Produkte auszugeben. Das ist weniger eine Frage des Wohlstandes als der Lebenseinstellung. Es muss eine Änderung der Mentalität stattgefunden haben, dann wird die Moral unabhängig vom Preis funktionieren. Momentan kann man beobachten, wie der Klimawandel das öffentliche Bewusstsein erreicht und mittelfristig auch Unternehmen dazu bringen wird, ihre Geschäftspraxis auf den Klimaschutz umzustellen.

Wem gegenüber trägt denn der Konsument Verantwortung?

Man trägt sie in erster Linie sich selbst gegenüber. Normalerweise zieht mich ja niemand zur Rechenschaft, wenn ich das kaufe, was mir gefällt. Das eigene Gewissen reagiert aber oft auf bestimmte gesellschaftliche Zustände. Es ist also auch Aufgabe der Gesellschaft, dafür zu sorgen, dass die moralische Aufmerksamkeit für den Konsum wächst.

Wenn sich nun aber der Konsument am Ende immer in „der Gesellschaft“ verstecken kann?

Das ist in der Tat ein Problem. Während Unternehmen an den Pranger gestellt werden, wenn sie sich nicht an bestimmte soziale und ökologische Standards halten, nimmt niemand die Konsumenten in die Pflicht. Sanktionen für schädlichen Konsum finden zwar statt, wenn man an das Rauchverbot oder an Umweltsteuern denkt. Aber das reicht längst nicht aus. Wir brauchen eine wirkungsvollere Selbstbindung der Verbraucher an Prinzipien der Nachhaltigkeit und Fairness.

Wie könnte ein Appell an die Konsumenten formuliert sein?

Bringt mehr Zeit zum Einkaufen mit! Informiert euch besser, und spart an der richtigen Stelle! Viele Leute kultivieren einen falschen Geiz, wenn sie wegen um fünf Cent billigeren Sprits über die Grenze zum Tanken fahren. Es gibt als Pendant zum Raubtierkapitalismus so etwas wie einen Habgierkonsumismus. Wer immer nur das Billigste kauft, darf sich nicht wundern, wenn das Klima den Bach hinuntergeht und der eigene Arbeitsplatz plötzlich ins Ausland verlagert wird.

Besteht Hoffnung?

Der Konsum braucht einen neuen sozialen und politischen Stellenwert. Die Verbraucher müssen sich als Mit-Täter der Gesellschaft erkennen. Der Konsumbürger, der sich darüber klar ist, dass bei jedem Einkauf eine Art demokratische Abstimmung stattfindet, ist der ideale Verbraucher der Zukunft.

GINA BUCHER, Jahrgang 1978, versuchte wegen schlechten Gewissens, einen unbedacht gebuchten Flug auf eBay zu versteigern. Erfolglos