Beten und treffen

Nach einem hochklassigen Spiel trennen sich der VfB Stuttgart und Meister Werder Bremen mit 4:4. Allein fünf Tore gehen auf das Konto der brasilianischen Bald-Schalker Marcelo Bordon und Ailton

AUS STUTTGART TOBIAS SCHÄCHTER

Karl Allgöwer war ein Bruddler. Er bruddelte gegen die Stationierung der Pershing II-Raketen, gegen Umweltzerstörung, Apartheid – und natürlich gegen die CDU. Fast alle Schwaben, die in den 80er-Jahren zum VfB ins Neckarstadion pilgerten, wählten Kohl, aber dennoch liebten sie Karl den Linken, der so oft auf seinen Präsidenten, den Finanzminister im tiefschwarzen Ländle, pfiff. Der Wasen-Karle war ein Linker mit einem rechten Hammer. Wenn es Freistoß gab, riefen alle: „Kaaarle, Kaaarle, Kaaarle.“ Und Karle zog ab. Aus 20, 30 oder 40 Metern, scheißegal, er zog ab – und die Torhüter unterschrieben schon mal den Krankenschein, für den Fall, dass das vom schmächtigen Quergeist abgefeuerte Geschoss auf ihre Fäuste knallen sollte.

Als am Sonntag Schiedsrichter Herbert Fandel in der allerletzten Minute dieses turbulenten 4:4 zwischen Stuttgart und Bremen auf Freistoß entschied, hatte Marcelo Bordon, der elefantenohrige Brasilianer, es längst geschafft: Er war legitimer Nachfolger des Knallgöwer: „Marcelo ohoh, Marcelo ohohohoh“, schrien die Schwaben. Und Bordon lief an, schoss, Bremens Torwart Reinke hielt tatsächlich die Fäuste hin, wehrte den Ball ab – und schüttelte seine mitgenommenen Pranken. Dann pfiff Fandel ab und 48.000 feierten das achttorige Spektakel, als hätten sie so etwas noch nie gesehen. Die Bremer Fans feierten sogar vorzeitig die Meisterschaft, von der Trainer Schaaf freilich noch immer nichts wissen will.

Für die Fans der Rot-Weißen aber gab es nur einen Hohepriester dieser heiligen Messe: Bordon. „Fußball isch unglaublich“, sagte der in lustigem Schwabenbrasilianisch. Drei Tore hatte der Haudrauf gemacht – eins per Kopf und zwei knallgöwerresk per Freistoß. Das vierte erzielte Streller. „Was hast du heute denn gegessen?“, fragte Bremens Ailton ungläubig nach dem Spiel. Kleines dickes Toni hatte den internen Tore-Vergleich gegen seinen Landsmann mit 2:3 verloren.

„Unglaublich“, fand derweil sein Freund Marcelo die eigene Treffsicherheit. „Ich habe nur gebetet“, verwies der tiefgläubige Bordon auch an seinem großen Tag auf Beistand von ganz oben. Der Brasilianer mit dem linken Hammer ist „zufrieden in Stuttgart“ – und bricht doch seine Zelte ab, spätestens 2005, wenn sein Vertrag endet und der neue auf Schalke beginnt. Nicht wenige sagen, Bordon bereue es bereits, den VfB zu verlassen. Aus Schalke war zu vernehmen, man wolle den Brasilianer schon ab der nächsten Saison in den Ruhrpott lotsen, dort könnte er dann mit dem Toni um die Wette ballern.

„Darüber hat mit mir noch niemand gesprochen“, sagt Stuttgarts Teammanager Felix Magath. Teuer wäre dieser Transfer allemal. 1999 wechselte Bordon für 4,5 Millionen Mark aus São Paulo an den Neckar. Für den besten Abwehrspieler der Liga wäre bei einem vorzeitigen Wechsel wohl die gleiche Summe fällig – in Euro. Minimum. „Nur Gott weiß, was passiert“, sagt Marcelo dazu – und scheint hin- und hergerissen.

Wie die meisten im Lager des VfB nach diesem Spitzenspiel. Bei aller Freude über den Unterhaltungswert analysierte Magath nüchtern: „Wir haben zwei Punkte auf Bayern und damit auf den Platz, der die direkte Qualifikation für die Champions League bedeutet, verloren.“ Vier Gegentore kassierten die Stuttgarter am Sonntag, so viel wie noch nie in dieser Saison, weil auch Klasnic zweimal für Werder getroffen hatte. „Das nervt mich“, sagte der morgen gegen Belgien erstmals im Kader der Nationalmannschaft stehende VfB-Torwart Timo Hildebrand. Das Titanle unterschrieb vor kurzem einen Werbevertrag bei einem Reifenhersteller, die Vertragsverhandlungen mit dem VfB jedoch liegen auf Eis. „Ich bin doch hier nicht der billige Jakob“, spottete Hildebrand über das Angebot des VfB, der sich bei Hinkel und dem inzwischen notorisch torlosen Kuranyi noch so spendabel gezeigt hatte. Der VfB ist gut beraten, sich schnell mit Hildebrand zu einigen. Denn: Auch Magath müsste dann aus der Deckung. Seit Wochen kursiert das Gerücht, er löse Ottmar Hitzfeld bei den Bayern ab. Magath betont derweil immer, er wolle sich erst nach den Verhandlungen mit den wichtigen Spielern zu seiner Zukunft äußern. Hildebrand ist der letzte in dieser Reihe. Dann müsste der Trainer Farbe bekennen.