: Heimkinder sollen entschädigt werden
In Niedersachsen leben 50.000 ehemalige Heimkinder, die in der Nachkriegszeit von Erziehern misshandelt wurden. Sozialministerin Ross-Luttmann und Landesbischöfin Käßmann versprechen den Opfern nun eine Entschädigung
Etwa eine halbe Million Kinder und Jugendliche sollen bis in die 70er Jahre hinein in kirchlichen Erziehungsheimen misshandelt und missbraucht worden sein. Laut Petitionsausschuss des Bundestags habe ein Großteil der 14- bis 21-Jährigen gewerblich und ohne Bezahlung arbeiten müssen, zum Beispiel in Wäschereien oder in der Landwirtschaft. Bisher wurden die Betroffenen in keiner Form für das erlittene Unrecht entschädigt. Auch die Rentenversicherung hat die unentgeltlich geleistete Zwangsarbeit noch nicht berücksichtigt. Laut des damals geltenden Jugendwohlfahrtgesetzes konnte jeder Heranwachsende in ein Heim abgeschoben werden, bei dem „eine Gefährdung oder Schädigung der leiblichen, geistigen oder seelischen Entwicklung“ oder „eine drohende oder bereits vorhandene Verwahrlosung“ festzustellen war. Eltern konnten ihr Kind verlieren, wenn sie sich eines „ehrlosen und unsittlichen Verhaltens“ schuldig machten. UG
VON UTA GENSICHEN
Etwa eine halbe Million Kinder wurden in den 50er und 60er Jahren in kirchlichen Erziehungsheimen misshandelt. Dieses Kapitel der deutschen und insbesondere der kirchlichen Geschichte ist bis heute nur ansatzweise aufgearbeitet. Das Land Niedersachsen macht nun einen ersten Schritt, um das erlittene Unrecht wieder gutzumachen.
Am Donnerstag sprach sich Sozialministerin Mechthild Ross-Luttmann (CDU) für eine Entschädigung der Betroffenen aus. Wer wie viel erhalte, entscheide letztendlich aber das Schicksal jedes Einzelnen, sagte die Ministerin dem NDR. Diese offizielle Aussage ist bundesweit ein Novum. Weder hat die Bundesregierung das erlittene Unrecht der Heimkinder anerkannt, noch bekommen sie derzeit finanzielle Entschädigungen.
Auch die evangelisch-lutherische Landeskirche Hannover geht offen mit dem bisherigen Tabu-Thema um. Als eine der ersten Landeskirchen überhaupt veröffentlichte sie im Herbst eine Studie, die sich mit den Zuständen in christlichen Kinderheimen der 50er und 60er Jahre befasst. Unter der Obhut der Landeskirche gab es zu dieser Zeit zehn Jugend- und Kinderheime.
Wie alle freien Träger durften die kirchlichen Einrichtungen weitgehend autonom über die Erziehungspraxis entscheiden. Das damals gültige Jugendwohlfahrtsgesetz beschützte die Heime sogar vor einer „Einmischung des Staates“ in die erzieherischen Aufgaben. Heute leben in Niedersachsen rund 50.000 Menschen, die in den Einrichtungen gedemütigt, geschlagen und missbraucht worden sind.
„Ich schäme mich dafür, dass so etwas in kirchlichen Heimen überhaupt möglich war“, sagte Landesbischöfin Margot Käßmann in einer Themensendung des NDR. Sie sei erschüttert über die Berichte der Betroffenen. „Mit Nächstenliebe hatte das nichts zu tun“, sagte sie. Käßmann sprach sich ebenfalls für eine individuelle Entschädigung der Betroffenen aus.
Michael-Peter Schiltsky hält eine pauschale Entschädigung von ehemaligen Heimkindern gleichermaßen für falsch. Der 61-Jährige kam als Kind in ein christliches Erziehungsheim nach Nordhessen, wo er von Erziehern missbraucht und geschlagen wurde. Heute kämpft der Künstler für die Anerkennung des Unrechts sowie für eine angemessene und gerechte Entschädigung der Opfer. Denn viele Heimkinder der Nachkriegszeit hätten noch schlimmere Erfahrungen als er machen müssen.
„Jemand, der als Säugling in ein Heim gekommen ist, hat natürlich ein anderes Schädigungsmuster als ein 14-Jähriger“, sagt Schiltsky. Er selbst sei einer der wenigen, die nach dem Heimaufenthalt eine weiterführende Schulen besuchten, Abitur machten und sogar studierten. Der Bericht der niedersächsischen Landeskirche belegt, dass die untersuchten Heime den Jugendlichen nur selten Bildung ermöglichten.
Stattdessen ließen die christlichen Brüder ihre Zöglinge auf dem Acker und in Betrieben schuften. So berichtete ein Betroffener von seinen Erlebnissen im Fürsorgeheim Freistatt bei Diepholz. Dort habe man von morgens bis abends in schweren Kettenhosen Torf abbauen müssen. Angetrieben wurden sie dabei von ihren Diakonen.
Heute leiden die Betroffenen nicht nur an den seelischen Folgen, sondern auch an den Lücken in ihrer Versicherungsbiographie. Denn die als Erziehungsmaßnahmen deklarierten Arbeiten werden von der Rentenversicherung bisher nicht berücksichtigt. Der Petitionsausschuss des Bundestages kritisiert deshalb, dass die ehemaligen Heimkinder bei den Rentenzahlungen entsprechend benachteiligt seien. Auch bei der Opferentschädigung hinkt man den bestehenden Ansprüchen noch hinterher. Ein Großteil der Betroffenen sei zwischen 60 und 75 Jahren alt, sagt Schiltsky. Wolle man diese mit einer Opferrente angemessen entschädigen, müsse sich die Regierung beeilen. Eine Einmal-Zahlung lehnt Schiltsky ab. „Das würde nichts bringen“, sagt er. Schließlich sei den Heimzöglingen der Umgang mit Geld oft nicht beigebracht worden. Schiltsky glaubt auch, dass viele aus diesem Grund kriminell geworden seien.
Vorerst jedoch steht die finanzielle Entschädigung nur theoretisch zur Debatte. Erst vor drei Wochen hat der Bundestag beschlossen, einen runden Tisch mit Vertretern der Länder, Betroffenen und Experten einzurichten. Bis auf die offiziellen Aussagen von Sozialministerin Ross-Luttmann und Landesbischöfin Käßmann ist noch keine konkrete Maßnahme in Sicht. Im Mittelpunkt der Nationalen Konferenz steht denn auch die historische Aufarbeitung der Heimerziehung. Im Frühsommer 2009 soll ein erster Zwischenbericht vorgelegt werden.