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Archiv-Artikel

Auch Tote müssen groß werden

Es spukt in Suburbia, aber alle Geister werden erfolgreich therapiert: Die amerikanische Autorin Alice Sebold hat mit ihrem Bestseller „In meinem Himmel“ eine Art Anti-Stephen-King-Roman geschrieben – eine Horrorgeschichte ganz ohne Horror

von KARSTEN KREDEL

Als Fernsehzuschauer kennt man sich in der amerikanischen Vorstadt aus. Man weiß, dass die Liquor stores am Tag des Herrn geschlossen und die Kühlschränke in den Küchen groß sind. Man ist vertraut mit einem Gefühl der Sehnsucht und der Nostalgie ihrer Bewohner, und man hat gelernt, sich zu fürchten: Irgendwo zwischen Vorgarten und Highschool lauert der Horror. Die amerikanische Vorstadt ist Mythos und geisterhafter Ort zugleich.

Susie Salmon ist dort zu Hause, auch wenn sie mit ihren vierzehn Jahren schon im Himmel ist. Es ist „ihr Himmel“, ausgestattet mit Erinnerungen und in Erfüllung gegangenen Wünschen: eine Mädchen-Vorstadt-Welt mit vielen Hunden. Von einem Pavillon aus schaut sie herab, beobachtet das Treiben da unten, und wenn ihr danach ist, geht sie in die Senior High, für die sie auf Erden zu jung war. Susie ist vergewaltigt und ermordet worden und wird bis in alle Ewigkeit vierzehn bleiben. Doch selbst im Himmel, so stellt sich heraus, muss man erwachsen werden.

Susie ist die Erzählerin von Alice Sebolds Bestseller „In meinem Himmel“, von dem in den USA doppelt so viele Exemplare verkauft wurden wie von Jonathan Franzens „Korrekturen“. Es funktioniert hier also offenbar, was oft teuflisch in die Hose geht: die Perspektive einer Toten zu wählen. Der Kunstgriff erlaubt Sebold die Ich-Perspektive eines Teenagers, der zugleich allwissend ist. Susie kann Gedanken lesen und längst Vergangenes abrufen, und sie steckt trotzdem auch als Geist noch ganz in ihrer Haut. So schnoddert sie frisch drauflos, erzählt von ihren Lehrern, ihrer ein Jahr jüngeren Schwester Lindsey – und ihrem Tod: „Mein Mörder war ein Mann aus der Nachbarschaft. Meiner Mutter gefielen seine Blumenrabatten, und mein Vater unterhielt sich mal mit ihm über Düngemittel.“ Ihr Vater weiß instinktiv, dass dieser Mr. Harvey seine Tochter getötet hat, doch die Polizei findet nichts Verdächtiges. Mr. Harvey hat Susie aufgelauert und in eine Erdhöhle auf einem Maisfeld gelockt, und das Schreckliche, das dort geschah, berichtet sie gleich zu Beginn. Dann sieht sie mit an, wie ihre Familie aus den Fugen gerät: Der Vater vergräbt sich in seine Trauer und die Gedanken an den Mörder, Lindsey schirmt sich gegen den Schmerz und von den anderen ab, ihre Mutter verlässt Mann und Kinder.

Eigentlich schaut Susie nicht nur zu. Eigentlich kann sie sich nicht damit abfinden, dass ihr Leben vorbei ist. Nur einmal hat sie einen Jungen geküsst und zu wenig gehabt von der „Hilflosigkeit, lebendig zu sein“. Also erlebt sie mit Lindsey die erste Liebe und versucht, die Aufmerksamkeit des Vaters auf übersehene Spuren zu locken. Jahre später, als ihr Vater einen Herzinfarkt hat, hofft sie, wieder mit ihm vereint zu werden: „Ich konnte nicht anders, so schien es, als an seinem schwächer werdenden Herzen zu reißen. Falls er starb, hätte ich ihn für immer.“

Die Toten halten die Lebenden in Schach – das ist natürlich ein Bild für die Schwierigkeit der Lebenden, sich von ihren Toten zu verabschieden. Susie begreift, dass ihr Himmel nur ein Vorhimmel ist, eine Schleuse zwischen den Welten; um dahin zu gelangen, wo die Sehnsucht getilgt ist, muss sie, wie ihre Aufnahmeberaterin Franny sie belehrt, „die Erde preisgeben“.

Nicht um ein Verbrechen und seine Bedeutung geht es in diesem Roman, sondern um eine therapeutische Anleitung zum Trauern, um „Heilung“ und „Abschluss“ – man kennt das aus dem eigenen küchenpsychologischen Repertoire. So überlebt nicht nur der Vater, auch die Mutter kehrt zurück. Susie erinnert sich an ein Foto, das sie heimlich von ihr aufgenommen hat, frühmorgens, bevor sie den Lippenstift auftrug und ihre Rolle als Mutter aufnahm: eine fremde, attraktive Frau namens Abigail. Nach Susies Tod will sie wieder diese Frau sein, die Literatur liebte und ihre Unabhängigkeit genoss. Doch dann wird klar: Es war nur der Exzess der Trauer, der die Familie zur Zwangsanstalt gemacht hat. Als die Tote endlich ruhende Erinnerung ist, gesundet auch die Familie. Am Ende wird Lindsey, die andere Tochter, ein Kind bekommen und ein Haus beziehen, und darin wird nichts als frische Hoffnung liegen. Die Realität ist manchmal schrecklich, aber auch voller Trost.

Ein amerikanischer Kritiker schrieb dieser Botschaft den Erfolg von „In meinem Himmel“ in einem trauernden Amerika zu. Tatsächlich hat jemand wie Stephen King nach dem 11. September weniger Bücher verkauft –und Alice Sebold hat einen Anti-Stephen-King-Roman geschrieben, eine Horrorgeschichte ohne Horror. Es spukt in Suburbia, aber die Geister werden erfolgreich therapiert. Es geht ihnen gut, sie haben Spaß, wir können mit ihnen reden.

Alice Sebold: „In meinem Himmel“. Aus dem Amerikanischen von Almuth Carstens. Manhattan, München 2003, 382 S., 21,90 €