: Der Unpatriot
AUS RICHMOND UND WASHINGTONMICHAEL STRECK
Larry Syverson trotzt. Dem Hurrikan im Herbst, dem Schneesturm im Februar und den „Fuck You“-Fingern aus heruntergekurbelten Autofenstern. Syverson steht immer an der gleichen Stelle. Main Street Ecke 10. Straße, Downtown Richmond/Virginia, vor dem massiven grauen Gebäude des Bundesgerichts und gegenüber dem baufälligen Hochhaus. Jeden Montag, Mittwoch und Freitag protestiert er hier in der Mittagspause eine Stunde gegen den Irakkrieg. Einen Tag vor der Invasion hat er begonnen. Heute ist sein 135. Tag. Es ist kühl und es nieselt. Autofahrer hupen, Passanten schimpfen, manche strecken ihm Victory-Zeichen entgegen. Viele ignorieren ihn einfach.
Vielleicht ist Larry Syverson nach über einem Jahr so etwas wie eine lebende Litfaß-Säule geworden, die man wahrnimmt und doch übersieht.
Syverson hält ein Schild mit Bildern seiner Söhne Bryce und Branden in Uniform. Als sie in den Irak abkommandiert wurden, musste er irgendwo hin mit seiner Angst und Wut. Er verkriecht sich etwas in seiner Lederjacke und überlegt, ob er den Regenschirm öffnen soll. Immer wenn ein Wagen hupt, ruft er: „Bringt unsere Jungs nach Hause.“ Branden ist bereits wieder zurück. Nach elf Monaten in Tikrit, Saddams Heimatstadt. Bryce ist noch in Bagdad. Noch einen Tag. Syverson weiß es noch nicht.
Am Morgen kam die Nachricht, dass fünf US-Soldaten getötet wurden. Ein Schrecken fuhr in seine Glieder. Bis die Entwarnung kam. Ein immer wiederkehrender Zyklus. Er versucht sich abzulenken. Doch die Gedanken lassen sich nie ganz abstellen, wie ein starker Kopfschmerz, der dank Aspirin nur noch leicht hinter der Stirnwand hämmert. Alle paar Stunden durchforstet er das Internet nach Meldungen aus dem Irak. „Ich bin ein News-Junkie geworden“, sagt er.
Leider gehe es da nicht allen so. Pentagon und Weißes Haus verhalten sich in Syversons Augen feige im Umgang mit der Realität des Krieges. Sie weigern sich hartnäckig, konkrete Angaben über Verwundete zu machen. Familienangehörige dürfen ihre toten Töchter und Söhne bei der Ankunft in den USA nicht sehen. Bush vermeidet wie der Teufel das Weihwasser, in Reden und bei Wahlkampfauftritten, über die Opfer zu sprechen. Er hat auch noch an keiner Beerdigung eines GIs teilgenommen. „Jeden Tag stirbt ein Soldat, und Bush kümmert sich darum, Millionen für seine Wiederwahl zu sammeln. Dieser Grad an Ignoranz ist unerträglich“, schimpft Syverson.
Eine Frau kommt auf ihn zu, schüttelt die Hand und sagt: „Ich bin stolz auf dich.“ Über die Monate ist der Geologe Syverson zu einem Mikrosoziologen für Protesthaltungen in dieser konservativen Stadt geworden, die im Bürgerkrieg Hauptstadt der Südstaaten-Konföderation war. Schwarze hupen, sagt er. Weiße Frauen reagieren wohlwollend. Weiße Männer sind eher feindselig. Und Fahrer von Autos, an denen US-Flaggen kleben, sind nicht auf seiner Seite.
Seine schwärzesten Stunden erlebte Syverson im letzten Mai, nachdem Bush den Krieg für beendet erklärte hatte. „Die Leute waren richtig wütend und manche schrien mich an, geh doch nach Hause.“ Doch seine beiden Söhne im Irak trieben ihn immer wieder auf die Straße.
Es gab auch lichtere und ermutigendere Momente, erzählt der 55-Jährige. Mitte Dezember, zu seinem 100. Protesttag, kamen vierzig Leute. Auch viele seiner Kollegen unterstützen ihn. Doch die Nachbarn im Vorort kehren ihm und seiner Frau Judy seither den Rücken. Da helfen auch die im Rasen vor dem flachen Haus steckenden drei Schilder mit der Aufschrift „Proudly Serving America“ und die an der Tür hängenden „Stars and Stripes“ nichts. Für viele ist und bleibt er ein Unpatriot. Doch auch Syverson selbst zieht plötzlich Grenzen. Er kann einfach nicht mehr mit jemandem befreundet sein, der den Krieg befürwortet. „Wie gut, dass sich Larry durch all das nicht einschüchtern lässt“, sagt Judy später zu Hause. Da sie die Anfeindungen nicht ertragen kann, überlässt sie ihrem dickfelligen Mann das öffentliche Protestfeld.
Mittlerweile gehört er in Richmond zum Stadtinventar. Redegewandt und selbstbewusst hat er es sogar zu bescheidener nationaler Berühmtheit gebracht. Als Mitglied der Organisation „Military Families Speak Out“, der 1.000 Soldatenfamilien angehören, stand er im Presseclub Washingtons Journalisten Rede und Antwort. Im September war sein Konterfei auf einer ganzseitigen Anzeige in der New York Times zu sehen, in der Syverson den Rücktritt von Verteidigungsminister Rumsfeld forderte – eine Aktion von Bürgerrechtsgruppen und Militärfamilien. „Ich habe meine Söhne immer unterstützt, zum Beispiel ihren Einsatz auf dem Balkan, doch im Irakkrieg wurden wir belogen“, sagt er.
Solch empfundener Verrat wiegt schwer genug bei einem Sohn in Uniform. Doch alle vier Söhne der Syversons waren oder sind beim Militär. Woher der gemeinsame Wunsch? Judy zuckt nur mit den Schultern auf die Frage, die sie wahrscheinlich schon unzählige Male gestellt bekommen hat. Sie weiß es einfach nicht. Brian ist bereits entlassen, im U-Boot hatte er Klaustrophobie bekommen. Brent ist Ingenieur auf dem Kriegsschiff „USS Campen“, stationiert in Seattle. Branden, der Älteste, ist mittlerweile wieder auf seiner Basis in Texas. Zweimal war er nach Südkorea abkommandiert. Und Bryce wartet auf die Rückkehr zum US-Militärstützpunkt Baumholder nahe Bad Sobernheim, wo er mit seiner deutschen Frau lebt.
Syverson erinnert sich an letztes Frühjahr, als sie beim Deutschlandbesuch über CNN erfuhren, dass ihr Sohn die Grenze zum Irak überschritten hatte. „Es war ein absurdes Gefühl, ihn in einen als falsch empfundenen Krieg ziehen zu sehen.“ Dann erzählt er von der schwierigen Kommunikation, dass Bryce nie berichten will, was er erlebt hat, dass er möglicherweise jemanden getötet hat, wahrscheinlich ein drittes Mal nach Bagdad muss. Und dann erzählt er von Bekannten, die ihre Söhne verloren haben, und die es nicht verwinden können, dass sie für Lügen gestorben sind. Branden und Bryce haben sich entschieden, aufgrund des Irakkrieges die Armee zu verlassen.
Der Nieselregen lässt nicht nach. Syverson überlegt, ob er seinen Protest nun auf zwei Tage die Woche reduziert, sollte Bryce tatsächlich nach Hause kommen. Ganz aufhören will er jedenfalls nicht. Ein Kamerateam des Lokalfernsehens postiert sich vor dem Eingang zum Gericht. Ihre Aufmerksamkeit gilt nicht ihm, sondern einem Bestechungsskandal in der örtlichen Verwaltung. Syverson hält ihnen trotzdem sein Plakat entgegen. Ein älterer Herr gesellt sich dazu. Er unterstützt Syverson gelegentlich und trägt ein Schild, das die aktualisierten Opferzahlen von US-Soldaten im Irak nennt. 593 am 31. März. Verwundete rund 3.500. Niemand kennt ihre genaue Zahl. Jedenfalls nennt sie niemand öffentlich. Und das ist es ja, was sie so wütend macht.
Um seinem Ärger Luft zu machen, stand der gebürtige Texaner Syverson mit seinen Schildern auch tagelang vor dem Landsitz des Wahltexaners Bush. Und vor zwei Wochen demonstrierte er mit hunderten Soldatenfamilien vor dem Luftwaffenstützpunkt Dover, wo die Leichen im Irak getöteter GIs eingeflogen werden. Sie standen auch vor dem Walter-Reed-Hospital, dem Militärkrankenhaus in Washington, wo viele verwundete Soldaten behandelt werden. Mit dabei war auch Tom McCoy, ein unscheinbarer Mann Mitte fünfzig, dessen einziger Sohn bereits zum zweiten Mal in den Irak verlegt wurde.
McCoy ist Vertreter für Zigaretten- und Getränkeautomaten. Er lebt eine halbe Autostunde südlich von Washington. Sein Büro ist übersät mit Zeitungen und Magazinen. Kaum begrüßt, knallt er Zeitungen mit Bildern toter und verwundeter Iraker auf den Tisch. „Du siehst solche Fotos nie von unseren Soldaten“, sagt er erregt. „Das Pentagon verschweigt, zensiert, und die Presse spielt mit.“ Seine Protestbriefe an die Washington Post blieben unbeantwortet.
An der Wand neben McCoys Schreibtisch hängt der eingerahmte Namen eines Freundes, den er in Vietnam sterben sah. Der Kriegsveteran nimmt einen gelben Zettel und versucht arithmetisch zu erklären, warum es keinen Aufschrei gibt gegen diesen Krieg: 290 Millionen Einwohner, eine Million davon in Uniform, 150.000 in der Golfregion. Macht inklusive Angehörige nur 1,3 Prozent, die vom Krieg betroffen sind. Außerdem bestand damals zu Vietnams Zeiten Wehrpflicht. „Für die große Mehrheit ist der Krieg vom Radarschirm verschwunden.“
McCoy glaubt, dass Kriegsveteran und Präsidentschaftskandidat John Kerry mehr Respekt vor den Frauen und Männern in Uniform hat. Daher hat er sich bei Kerrys Wahlkampfteam gemeldet, um für den Demokraten zu werben.
Für Syverson ist es ohnehin ein Rätsel, warum Bush immer noch so viel Ansehen genießt. „Was haben mir vier Jahre Bush gebracht“, fragt er. Ein Sohn ist arbeitslos. Zwei Söhne sind im Krieg. Und statt seines Einkommens sind nur die Kosten für die Krankenversicherung gestiegen.
Am Nachmittag sitzt Syverson vor dem Computer und liest E-Mails. Bryce hat sich gemeldet. Morgen werde er nach Kuwait ausgeflogen. Erleichtert lässt sich Syverson in den großen Sessel fallen. Vielleicht kann er das erste Mal seit Monaten ruhig schlafen. Und doch fühlt er sich nicht so ganz wohl. Der Gedanke, dass sein Sohn nur abreisen kann, weil ein anderer Soldat seinen Platz einnimmt, trübt die Freude. „Mein Glück gibt es nur auf Kosten anderer. Das ist für mich nicht akzeptabel.“