: Eichel braucht Mut
Konjunktur beleben (2): Mit ihren Reformen hat die Bundesregierung viel für die künftigen Generationen getan. Jetzt ist eine antizyklische Finanzpolitik notwendig
Angesichts der lahmenden Wirtschaft und entsprechend mickriger Steuereinnahmen ist eine neue Diskussion über die Finanzierung des Bundeshaushalts durch höhere Verschuldung entbrannt. Dadurch könnte die Konjunktur beflügelt oder zumindest gestützt werden. Eine solche antizyklische Fiskalpolitik ist aber aufgrund des Maastricht-Pakts eigentlich nicht möglich, da die gesamtstaatliche Nettokreditaufnahme auf maximal 3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes beschränkt sein soll. Und Deutschland droht diese Linie ohnehin wieder zu überspringen. Für viele noch wichtiger als der europäische Stabilitätspakt ist die Frage, ob ein Konjunkturaufschwung auf Pump nicht bedeuten würde, dass wir zu Lasten künftiger Generationen uns heute ein gutes Leben machen. Schließlich wird noch die Frage gestellt, ob höhere Staatsverschuldung überhaupt die erwünschte Wirkung hätte.
Die Frage nach der Wirkung kann nicht mit Sicherheit beantwortet werden. Was freilich deutlich ist, ist die Tatsache, dass der Sparkurs von Hans Eichel keineswegs zu einem ausgeglichenen Haushalt geführt hat. Vielmehr hat die Bundesregierung durch ihren Konsolidierungskurs die Binnennachfrage so geschwächt, dass die Wirtschaft lahmt und die Steuereinnahmen nicht ausreichen, um den – im Vergleich zur Situation ohne Sparrunden – abgesenkten Bundeshaushalt finanzieren zu können. Wenn eine Therapie so gründlich fehlgeschlagen ist, sollte eine neue erprobt werden. Wie in der Medizin gibt es bei schwerwiegenden Diagnosen auch in der Wirtschaftspolitik keine Garantie für Erfolg. Aber nur den Kopf hängen zu lassen ist auf keinen Fall verantwortungsbewusst. Zumal die Bundesregierung die Bedingungen für die Wirkungen einer antizyklischen Finanzpolitik durch die Agenda 2010 ja verbessert hat. Das Arbeitsmarktgefüge in Deutschland wird flexibilisiert. Wenn die Nachfrage stimuliert wird, sind raschere Reaktionen am Arbeitsmarkt zu erwarten als zuvor.
Auch für mehr Generationengerechtigkeit hat die Bundesregierung gesorgt. Die umstrittene Rentenreform hat die künftigen Generationen bereits entlastet. Und der Umbau der Arbeitslosenversicherung, der Arbeitslosenhilfe und der Sozialhilfe wird – auch wenn das jetzt viele Betroffene schmerzt – langfristig Langzeitarbeitslosigkeit minimieren und damit auch künftige Generationen entlasten. Die eine oder der andere mag sich mehr Entlastung seiner Kinder und Enkelkinder wünschen – aber diesem Wunsch sind aufgrund der berechtigten Interessen der heutigen Rentner und der rentennahen Jahrgänge Grenzen gesetzt. Fest steht: Diese Bundesregierung hat – teilweise durch Selbstverstümmelung – bereits viel für die künftigen Generationen getan. Aber nahezu alle Maßnahmen der Agenda 2010 schwächen die Konjunktur. Deswegen ist eine antizyklische Finanzpolitik notwendig. Und es widerspricht keineswegs dem Gebot der Generationengerechtigkeit, wenn der Staat einen „Kassenkredit“ aufnimmt, damit die Strukturreformen ihre heilsamen Wirkungen am Arbeitsmarkt entfalten können. Wenn die dazu notwendige Verschuldung im Aufschwung wieder abgebaut wird, werden künftige Generationen nicht belastet.
Freilich, so argumentieren viele, habe die Vergangenheit gelehrt, dass aus den kurzfristigen „Kassenkrediten“ langfristige Schulden wurden, weil die Politik sich weigere, im Aufschwung die Kredite auch wieder zurückzuzahlen. Diese Gefahr besteht tatsächlich. Man kann aus den fiskalpolitischen Fehlern der Vergangenheit aber auch andere Schlussfolgerungen ziehen als den bloßen Verzicht auf Fiskalpolitik.
Zum Beispiel hat die Politik in den USA in den Neunzigerjahren Ausgabenpfade, das heißt auch Deckelungen für alle diskretionären Haushaltstitel, etwa Investitionen, beschlossen. Und diese Pfade wurden – wie geplant – sowohl bei guter wie bei schlechterer Konjunktur eingehalten. Im Hinblick auf die konjunkturelle Wirkung bedeutet dies, dass bei schlechter Konjunktur wegen nachlassender Steuereinnahmen die Defizite und damit der Stabilisierungseffekt für die Wirtschaft höher ausfielen. Umgekehrt wird bei guter Konjunktur mit reichlich fließenden Steuereinnahmen, Überschüssen und Schuldenabbau die wirtschaftliche Entwicklung gedämpft. Die Anwendung relativ einfacher Ausgabenregeln hat in den USA dazu geführt, dass man von einem Defizit in der Nähe von rund 5 Prozent auf einen Überschuss von rund 1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gelangte. Was in den USA funktioniert, sollte in europäischen Staaten nicht systematisch scheitern.
Zudem gibt es in Europa sogar einen überstaatlichen Schiedsrichter. Die EU-Kommission kann über die Einhaltung der Regeln wachen. Allerdings muss der Stabilitäts- und Wachstumspakt reformiert werden. Die Defizitgrenze von 3 Prozent, die im Abschwung zu restriktiv wirkt, aber im Aufschwung die Rückzahlung von Staatsschulden nicht erzwingt, ist offenkundig unsinnig konstruiert.
Wo der richtige Ausgabenpfad für Deutschland liegt, ist – wie die Dosierung einer neuen Medizin – natürlich nicht rein wissenschaftlich entscheidbar. Man muss auf jeden Fall mutig sein. Die jetzt zugrunde gelegte Steigerungsrate des Bundeshaushalts von 1,3 Prozent pro Jahr könnte auf etwa 2,0 Prozent festgelegt werden. Wenn die Konjunktur anspringt, würden automatisch Schulden zurückgezahlt werden.
Ein derartiges Ausgabenprofil würde es endlich auch erlauben, dass mehr in das Erziehungs- und Bildungswesen investiert würde. Es ist allgemein akzeptiert, dass im Vorschulbereich mehr für Bildung und Betreuung getan werden muss. Und die deutschen Hochschulen sind Not leidend. Hier liegen sogar durchdachte und geplante Ausgabenprogramme, die kurzfristig der Konjunktur helfen, schon in den Schubladen der Länderministerien. Seit Jahren empfiehlt der Wissenschaftsrat mehr Vorhaben für den Bau und die Sanierung von Hochschulbauten, als sie von Bund und Ländern finanziert werden konnten. Würde der Bund hier wieder kräftiger zuschießen, wäre den Hochschulen, der Bauwirtschaft und der Konjunktur geholfen. Wenn Personalausgaben für Forschung und Lehre – wie dies ökonomisch sinnvoll ist – auch als Investitionen in die Zukunft der nachwachsenden Generation verbucht würden, würde ein kreditfinanzierter Ausbau des Bildungs- und Forschungssektors auch nicht die Haushaltsvorschrift verletzen, dass die Kredite das Investitionsvolumen nicht überschreiten dürfen. Zur Änderung dieser gesetzlichen Vorschrift ist aber ein Bund-Länder-Konsens notwendig – der könnte in der Föderalismuskommission freilich gefunden werden.
Die Strukturreformen der Agenda 2010 waren und sind richtig. Der Kanzler darf hier nicht wackeln. Gleichzeitig sollte er aber auch in der Finanzpolitik so viel Kraft aufbringen, nicht mehr der deutschen Schulmedizin zu vertrauen, sondern eine experimentelle Therapie zu wagen. GERT G. WAGNER