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Archiv-Artikel

Strategie statt Taktik

Die großen und notwendigen Reformen kann nur eine große Koalition durchsetzen. Zudem würde sie das Parlament stärken und die Parteien endlich wieder politisieren

In der großen Koalition der 60er- Jahre gewannen die Abgeordneten an Selbstbewusstsein

In den nächsten Monaten, da kann man sicher sein, wird die politische Öffentlichkeit dieser Republik über eine mögliche große Koalition palavern. Und die Kritiker eines solchen Regierungsbündnisses werden sich sicher besonders aufgeregt zu Wort melden. Sie werden uns zeigefingerschwingend darüber belehren, dass eine großkoalitionären Regierungsallianz die deutsche Gesellschaft noch mehr lähmen würde. Dass die Volksparteien sich in diesem Fall noch weiter angleichen. Dass das Parlament noch stärker entmachtet wird. Dass das Land vollends in Lethargie versinkt. Denn so reden die 55 bis 60 Jahre alten Meinungseliten an den Universitäten und in den Chefredaktionen schließlich schon seit nunmehr gut 35 Jahren, seit sie sich als junge Menschen in den Zeiten von Jimi Hendrix über das Kabinett Kiesinger/Brandt außerparlamentarisch empörten.

Doch stimmten all die sinistren Apokalypsen schon damals nicht. Und sie werden auch dann nicht Realität, wenn im Herbst Wolfgang Clement oder wer auch immer mit Angela Merkel koalieren sollte. Große Koalitionen haben in institutionell hochfragmentierten Systemen wie der Bundesrepublik lediglich die Funktion, durch eine zeitweise Allianz von Bürgertum und Arbeitnehmern – statt der sonst üblichen Binnenintegration nur des einen Lagers – die großen und fälligen Reformen zu realisieren und in Anschluss daran die Voraussetzungen für eine neue Politik und Kultur diesseits ihrer selbst zu schaffen. So alle dreißig bis fünfunddreißig Jahre ist das fällig.

Denn viel geht seit Jahren nicht mehr zusammen in der deutschen Innenpolitik. Und das wird auch erst einmal so bleiben. Dabei sind die Probleme, die dieser Republik zu schaffen machen, Legion. Wir alle können sie inzwischen im Schlaf herunterbeten: von der beispiellosen Wachstumsschwäche der deutschen Wirtschaft über die Pleite der Kommunen bis zur Kostenexplosion des Gesundheitswesens. Keines der Probleme ist neu; sie alle haben sich in den letzten 30 Jahren, Zug um Zug aufgeschichtet. Und auch künftig wird keine kleine Koalition in Deutschland sie lösen, selbst wenn sie die tüchtigsten Pragmatiker und klügsten Visionäre in ihren Reihen haben sollte.

Denn es gibt kaum ein anderes demokratisches Land der Welt, in dem der politische Gestaltungsraum machtinstrumentell so begrenzt ist wie in Deutschland. Nirgendwo jedenfalls ist das Vetodepot der Opposition so aufgefüllt wie hierzulande. In England etwa ist die Opposition durch und durch ohnmächtig; sie kann lärmen und nörgeln, es interessiert niemanden. In Deutschland aber ist die Opposition machtpolitisch stets mit von der Partie, über ihre Ministerpräsidenten und im Bundesrat. Das hat natürlich viel mit den föderalen Strukturen und Kompetenzen zu tun, die ebenfalls ein Unikum in dieser Welt sind. Eine Regierung in Deutschland kann nicht einfach regieren, wie sie es für gut und richtig hält und wofür sie eigentlich auch gewählt wurde. Eine Regierung in Deutschland braucht zum Erfolg bei zumindest 9 von 10 wichtigen Gesetzen die große Oppositionspartei. Aber diese Opposition ist ihrerseits natürlich nicht am Erfolg der Regierung interessiert – und verhält sich ebenso. Nur wenn die Opposition kopflos durch die Landschaft irrt, vermag ein taktisch kaltblütiger Regierungschef den Spielraum vorübergehend zu erweitern. Aber damit kann auch der große Spieler im Bundeskanzleramt nicht mehr ernsthaft rechnen, da die Merkels und Kochs dazugelernt haben und mittlerweile zu lafontainistischen Obstruktionen und schröderschen Raffinessen fähig sind.

So bleibt allein die große Koalition. Sie ist gewissermaßen die zumindest zeitweise zwingende innere Konsequenz aus dem kooperationsdemokratisch angelegten Institutionengefüge der bundesdeutschen Republik. So wie Deutschland verfasst ist, gelingt (Innen-)Politik allein durch Arrangement, nur dadurch, dass beide Parteien gleichermaßen am gouvernementalen Erfolg interessiert sind. Entweder man schafft die Abhängigkeit der Zentralregierung vom Bundesrat ab – was im Grunde vernünftig wäre –, oder man lässt sich, wenn man das Erste nicht will, von Fall zu Fall auf großkoalitionäre Zweckbündnisse ein.

Bleibt alles wie bisher, stehen sich die Volksparteien auch künftig in einem zähen Stellungskrieg gegenüber

Einiges spricht im Übrigen dafür, dass die große Koalition zwei weitere Fehlentwicklungen korrigiert: den Souveränitätsverlust des Parlaments und die Entpolitisierung der Parteien. In der Tat haben die Parlamentsfraktionen der Regierungsparteien in den letzten Jahren an Einfluss enorm eingebüßt. Viele der großen gesellschaftlichen Debatten sind bekanntermaßen in Kommissionen verlagert worden. Und sobald sich in den Bundestagsfraktionen von SPD und Grünen Minderheitenauffassungen auch nur vorsichtig herauszukristallisieren beginnen, greift rüde der Disziplinierungsdruck der „eigenen Regierungsmehrheit“ zu. In der Tat: Knappe Majoritäten erzwingen Geschlossenheit. Große Mehrheiten aber verschaffen Raum, lassen gar innerkoalitionäre Opposition zu. Exakt so konnte man es in den Jahren 1966–1969 erleben.

Die kritische publizistische Öffentlichkeit der 60er-Jahre hatte zu Beginn der großen Koalition noch in düstersten Farben den drohenden Niedergang der Parlamentskultur gezeichnet. Doch: Das Gegenteil trat ein. Nie mehr sonst konnten die Parlamentarier der Regierungsfraktionen so frei und frech ihr Mandat wahrnehmen wie in diesen drei Jahren. Fast näherte sich der Deutsche Bundestag für einige Jahre noch einmal dem montesquieuschen Idealzustand an. Die Regierungsfraktionen waren nicht mehr Instrument der Exekutive, fungierten nicht lediglich als der in das Parlament verlängerte Arm des Kabinetts, sondern bildeten zusammen mit der Opposition ein wirkliches Kontrollorgan gegenüber der Regierung. Die Zahl der öffentlichen Hearings, in denen sich die Regierungsmitglieder peinlichen Nachfragen stellen mussten, schnellte sprunghaft nach oben. Und Abstimmungen wie die über die Abschaffung der Todesstrafe verliefen quer durch die parlamentarischen Lager. Den Fortbestand und die Handlungsfähigkeit der Regierung hat das nicht gefährdet, aber die Abgeordneten gewannen an Selbstbewusstsein, Individualität, politischer Farbe.

Schließlich mag die große Koalition, sobald sie einigermaßen die Großaufgaben gelöst hat und der zweiten Legislaturhälfte zusteuert, wieder die beiden Parteien politisieren. Auch das hat man in den 60er-Jahren gut verfolgen können. Deutlicher waren die außen- und wirtschaftspolitischen Unterschiede zwischen Union und Sozialdemokraten in den gesamten Sechzigerjahren nie als am Ende der großen Koalition. Und das hat die Republik im Weiteren ungemein beflügelt, hat neue Debatten entfacht, war Katapult für die Bewegtheiten der Siebzigerjahre. Eine Wiederauflage der großen Koalition im Sommer oder Herbst 2003 könnte durchaus ähnliche Folgen haben. In den ersten beiden Jahren haben die beiden Großparteien zuvörderst die Sanierungsaufgabe zu lösen – unideologisch und pragmatisch. Dann aber werden sie, schon aus Gründen des Wahlkampfes, Sonderheiten und Unterschiede herausstellen, werden die unterschiedlichen Werte und Leitideen hervorheben, werden erstmals nach Jahren wieder über Sinn und Sendung nachdenken. Beides braucht die deutsche Gesellschaft: eine mittlere Frist wirklich operationsfähigen Pragmatismus, dazu und danach aber auch langfristig ausgerichtete Großdebatten über Zielperspektiven und normative Begründungen der Politik. Die große Koalition könnte für beides Agens und Basis sein.

Es gibt keine andere Demokratie, in der der Gestaltungsraum machtinstrumentell so begrenzt ist

Bleibt aber alles so wie bisher, dann werden sich die beiden Volksparteien auch künftig in einem zähen Stellungskrieg gegenüberstehen um die 4 bis 5 Prozentpunkte, die über Regierung und Opposition entscheiden, während sie sich inhaltlich zuletzt bekanntlich weit angenähert haben. Beim Streit zwischen SPD und Union geht es längst nicht mehr um unüberbrückbare programmatische Gegensätze. Das aber macht die Kooperations- und Koalitionsunfähigkeit der beiden Volksparteien erst recht so substanzlos – und für die meisten Wähler so abstoßend.

Wenn aber Deutschland wirklich tief im Schlamassel steckt, wenn tatsächlich die Zeit dramatisch drängt; und wenn die Differenzen zwischen den beiden Großparteien in der Kernfrage der ökonomischen Sanierung mittlerweile minimal sind – und sie sind es –, dann kann sich die Republik wettbewerbsdemokratisch inszenierte Scheinantagonismen längst nicht mehr leisten. FRANZ WALTER