: Der Mann auf Halde Nr. 7
aus Maili Suu PETER BÖHM
Rasulbek Kudscherbajew hat sich auf seinen Hügel ein Häuschen gebaut. Es ist weiß getüncht und er hat einen Garten angelegt, in dem Knoblauch, Tomaten, Kartoffeln und kräftig aussehender Mais wachsen. In einer Ecke grast friedlich eine Kuh. Eigentlich ist der Hügel eine Halde, die Halde Nr. 7. Aber deshalb war der 45 Jahre alte Kirgise bisher nicht weniger zufrieden mit seinem Leben.
An diesem sonnigen Junimorgen bekommt Kudscherbajew Besuch von zwei Mitarbeitern des kirgisischen Umweltministeriums und einem deutschen Reporter. Sie sind gekommen, weil zwei amerikanische Wissenschaftler vor einigen Monaten bei ihm im Haus Radonwerte gemessen haben, die um fast das 20fache den gesetzlichen Grenzwert überschritten. Radon ist ein farb- und geruchloses Gas. Es entsteht, wenn Uran zerfällt. Und nach Tabakrauchen gilt es als zweithäufigster Auslöser von Lungenkrebs.
Wenn Kudscherbajew gefragt wird, wo denn das Warnschild vor seiner Halde, das an allen Depots und Halden in Maili Suu aufgestellt wurde, hingekommen ist, das mit den drei im Kreis angeordneten Vierecken, sagt er halb schmunzelnd, halb entschuldigend: „Ach, das! Wissen Sie, an diese Schilder binden die Leute oft ihre Kühe an. So werden sie locker, und die Kinder nehmen sie heraus und spielen damit.“ Bevor sie dann jemand auf dem Altmetallmarkt verkaufe, führt Aripschan Kokossow den Satz zu Ende. Er arbeitet für das Umweltministerium in Osch. „Zwölf Kilo für einen Dollar.“
Kudscherbajew hat Badeschlappen und eine Trainingshose an. Er trägt eine Armeejacke und auf dem Kopf den traditionellen, schwarzweißen Kalpak-Hut. Gestern ist er erst spät nach Hause gekommen. Er arbeitet als Wachmann im Lampenwerk am Ort. 24 Stunden am Stück. Dann hat er drei Tage frei. Er wundert sich, was diese Fremden von ihm wollen, aber selbstverständlich lädt er sie sofort in seinen kleinen, aus Latten zusammengezimmerten Pavillon im Garten ein, lässt seine älteste Tochter grünen Tee bringen und beantwortet geduldig ihre Fragen.
Kudscherbajew ist hier im Tal geboren. Schon sein Vater hat hier gelebt und davor schon dessen Vater. Damals war hier in dem heute 23.000 Einwohner zählenden Städtchen ein streng geheimes und hermetisch abgeriegeltes Förder- und Aufbereitungsgebiet der sowjetischen Atomindustrie. Kudscherbajew weiß, dass sein Grundstück auf einer Halde liegt, in der Gesteinsabfälle aus der Uranförderung von damals lagern. Vor 13 Jahren jedoch suchte er etwas Neues. Die Erde unter seinem alten Haus war weggerutscht, und so kaufte er dieses hier. Vorher weideten dort Kühe und Ziegen. „Wer kann schon sagen, ob es gefährlich ist, auf so einer Halde zu leben“, sagt Kudscherbajew selbstsicher, wie um sich noch einmal zu der Entscheidung von damals zu gratulieren.
Aber es waren doch zwei Amerikaner hier. Haben die ihm denn nichts von Radon-Gas erzählt? „Das stimmt. Die zwei Amerikaner waren hier.“ Kudscherbajew muss ein bisschen lachen: „Aber wissen Sie, als die hier waren, war ich gerade bei der Arbeit.“
Und er, seine Frau und die vier Kinder, die sind doch alle gesund, oder? „Ja, selbstverständlich!“, sagt Kudscherbajew dann, und man sieht ihm an, wie er langsam zu verstehen beginnt, wo diese ganze Fragerei hinführen soll. Aber weiter: Hat er schon einmal daran gedacht, umzuziehen, oder gar von hier wegzugehen? – Umziehen? Wieso denn umziehen?, fragen Kudscherbajews Augen. Seiner Familie geht es doch gut. Er hat Arbeit. Wissen die Fremden denn nicht, wie schwer es ist, heutzutage Arbeit zu finden in Kirgisien? Jeder, der konnte, die Deutschen, die Russen, die Tataren, rund 5.000 Menschen, sind nach der Unabhängigkeit Kirgisiens von der Sowjetunion aus Maili Suu weggegangen. Das Lampenwerk, das die Behörden gebaut haben, nachdem hier kein Uran mehr gefördert wurde, beschäftigt heute nur noch 4.000 Leute. Vor 1991 waren es mehr als doppelt so viele. Im Isoliergerätewerk sind es sogar nur noch rund 60 Angestellte. Von hier weggehen? Kudscherbajew versucht nicht zu verbergen, wie absurd ihm der Gedanke vorkommt. „Aber dafür müsste ich doch erst einmal Geld haben“, sagt er etwas resigniert.
Beim letzten Satz ist Ministeriumsmitarbeiter Kokossow aufgesprungen. So viel Unschuld übersteigt sein Fassungsvermögen. Aufgeregt redet er auf Kudscherbajew ein: „Mann, von der Strahlung kannst du impotent werden. Verstehst du, du kannst keine Kinder mehr haben.“ Und das Radon-Gas könne man zwar nicht sehen, aber es sei deshalb nicht weniger gefährlich. Wie radioaktive Strahlung überhaupt. „Deine ganze Familie kann Krebs davon bekommen.“
So langsam beginnt Kudscherbajew zu dämmern, dass an dem, was die Fremden sagen, etwas dran sein könnte. In einer Sendung im kirgisischen Fernsehen, erzählt er nun, hat er kürzlich gesehen, dass die Uranabfälle eine Gefahr für die Umwelt darstellen können. Die kirgisische Regierung hat in den vergangenen Monaten eine Informationsoffensive über Maili Suu gestartet und die anderen Orte im Land, in denen es noch Überbleibsel aus der Atomwirtschaft gibt. Im April veranstaltete sie eine Expertenkonferenz in der Hauptstadt Bischkek, auf der sie Maili Suu eine Gefahr für die gesamte Region nannte.
Der GAU, den die Regierung befürchtet, ist, dass ein Erdrutsch das enge Tal versperrt und einen Damm bildet, an dem sich der Gebirgsfluss aufstaut. Es gibt in Maili Suu drei Hänge, an denen teilweise auf mehreren hundert Meter Breite die Erde rutscht – in manchen Jahren mehr, in manchen Jahren weniger. Seit 1990 gab es im Frühling jedes Jahr, wenn es regnete und der Schnee schmolz, mindestens einen größeren Erdrutsch. Weil die Hänge an vielen Stellen steil sind, wurden fast alle der 23 Gruben und auch einige der Halden in Maili Suu unmittelbar in der Nähe des Flusslaufes eingerichtet. Deshalb könnte das Wasser leicht die Abfalldepots fluten. Die Straße über dem Fluss war durch einen Erdrutsch schon ein paar Mal blockiert. Früher oder später müssten die Behörden den radioakiv verstrahlten Stausee in die Tiefe entlassen, oder das Wasser würde sich den Weg selbst bahnen. Dann geriete das verseuchte Wasser in den Fluss Syr Darja, der durch den dicht besiedelten Teil des usbekischen Fergana-Tales fließt und später in Kasachstan den Aralsee speist. Das Gebrauchs- und Trinkwasser von Millionen von Menschen wäre in Gefahr, und ihr Gemüse, ihre Früchte und ihre Baumwolle belastet.
Kudscherbajew beginnt zu verstehen, dass das, was er im Fernsehen gesehen hat, mit seinem Leben verbunden ist. Mit gesenktem Blick sitzt er da. Die Gedanken fliegen in seinem Kopf umher, vor allem dieses mysteriöse Radon-Gas geht ihm nicht aus dem Sinn. Und plötzlich bringt er die Bruchstücke zusammen. „Das damals“, stammelt er. „Dieser Unfall, das war wohl von diesem Radon-Gas, oder?“ Er hat sich direkt an Minwale Schaichudinow gewandt. Schaichudinow war damals Ingenieur in der Uran-Förderung und überwacht nun für das Umweltministerium die Depots. Kudscherbajew sieht jetzt enttäuscht aus. Er ist dem Weinen nah. „Und ihr habt uns nie gesagt, dass das gefährlich ist.“
„Dieser Unfall damals hatte überhaupt nichts mit Radon-Gas zu tun“, verteidigt sich Schaichudinow mit belegter Stimme. „Das war ganz normales Erdgas.“ Bei diesem Unfall 1983 in Maili Suu sind drei Männer ums Leben gekommen. Nach einem kleinen Erdrutsch waren sie in eine Höhle hinabgestiegen, um ein Wasserrohr zu reparieren. Sie sind erstickt, weil aus der Leitung dort auch Gas austrat. Doch dieser Erklärung will Kudscherbajew jetzt nicht mehr glauben. In sich zusammengesunken sitzt er auf seinem Stuhl und starrt abwechselnd Löcher in die Luft oder auf seine Fingernägel, hört, dass immerhin bisher niemand genau weiß, wie gefährlich es ist, auf so einer Halde zu wohnen.
Es herrscht peinliches Schweigen. Ministeriumsmitarbeiter Kokossow versucht die Situation zu retten. „Nun sieh es doch einmal so“, erzählt er, als die Besucher schon zum Gehen aufgestanden sind. Er legt einen Arm um Kudscherbajews Schultern. „Manche Leute sind aus Maili Suu weggezogen, und haben dann nicht mehr lange gelebt. Sie hatten sich so an die Radioaktivität gewöhnt, dass sie ohne sie gar nicht mehr leben konnten.“ Kudscherbajew lacht gequält.
Dass Kokossow vor einer knappen Stunde mit dem Geigerzähler am Fuß der Halde eine 20fach über dem kirgisischen Grenzwert liegende Gammastrahlung gemessen hat, das hat er dem Mann aus Maili Suu lieber nicht erzählt.