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: Chillen am Boxi, als dort noch DDR war und nicht Mallorca: Torsten Schulz’ „Boxhagener Platz“

Honecker war schuld. An allem – an der schlechten Versorgung, am zu vielen Schnaps, an der miesen Stimmung. Es war in den Siebzigerjahren, in Ostberlin. Wenn meine Oma einen ihrer Wutanfälle bekam, spielte das Staatsoberhaupt der DDR darin eine tragende Rolle. Eines Abends, als ihr jüngerer Sohn erklärte, die Schulaufgaben nicht fertig machen zu können, weil sein Heft voll geschrieben war, und nach halb sieben alle Läden geschlossen hatten, in denen man ein neues hätte kaufen können, riss Oma die Wohnzimmerfenster auf und brüllte vom vierten Stock auf die Straße, dass Honecker schuld an allem sei.

Ganz wie Oma Otti, eine der Hauptfiguren in dem Roman „Boxhagener Platz“ von Torsten Schulz. Sie beschimpft – wir schreiben das Jahr 1968 – Honeckers Vorgänger Ulbricht als „Zickenbart“ und „nuschelnden Sachsen“, seine Regierung als „Aasbande“ und „Kommunistensäcke“. Die „Ehrenparade der Nationalen Volksarmee“, die Ulbricht am 7. Oktober, dem Nationalfeiertag der DDR, veranstaltet, ist der alten Frau zuwider. Weil die Karl-Marx-Allee gesperrt ist, die Otti auf ihrem täglichen Gang zum Friedhof überqueren muss. Im Schlepptau: Holger, ihr Enkel, abkommandiert zum Gießkannetragen. Schulz erzählt in seinem Debütroman gleich zu Beginn von einem absurden Staatsritual der DDR: der Militärparade, bei der Panzer und Raketenwerfer vom Sieg des Sozialismus künden. Und er trifft den Ton des nörgelnden Berliners, bei dem Systemkritik im Privaten ebenso dazugehört wie das offizielle Sichfügen. Hauptfigur des Romans ist der 12 Jahre alte Holger. Der spielt am liebsten mit seinen Kumpels Fußball. Auch sonst erlebt er am Boxhagener Platz in Friedrichshain das Übliche: Er bekommt den ersten Zungenkuss, hängt mit der Clique ab, erlebt, wie die Eltern sich streiten, und sucht nach Abenteuern. Doch dann passiert ein Mord, und plötzlich steht alles Kopf, geheimnisvolle Ermittler treten auf den Plan und Kämpfer des Spartakusbundes. Holgers heiße Spur führt direkt ins frivole Westberlin, zu Gruppensex-affinen Studentenkommunen.

Torsten Schulz, selbst in Ostberlin aufgewachsen, ringt dem absurden System DDR einiges an Pointen ab und vermischt dies mit den Beobachtungen eines Teenagers, dem die Erwachsenenwelt sowieso merkwürdig erscheint. Zugleich vermeidet Schulz – der bisher als Dokumentarfilmer und Drehbuchautor tätig war, unter anderem für Andreas Dresens Film „Raus aus der Haut“ – jegliche Form von Ostalgie: Die DDR degeneriert bei ihm nicht zum Kasperletheater. Seine Figuren sind skurril und bleiben doch menschlich. Wie Holgers Vater, der Abschnittsbevollmächtigte. Ein verunsicherter Wichtigtuer und Polizist, der seine Ehefrau mit Parolen überzeugen will und der heimlich weint, wenn seine Frau in Bars geht, um andere Männer zu treffen. Am Schluss wird man den Mörder gefasst und Holger eine geliebte Person verloren haben. Für alle kehrt das Leben am Boxhagener Platz in seine alltäglichen Bahnen zurück. Was dem jugendlichen Helden aber bleibt, ist die Hoffnung auf etwas Großes – auf eine revolutionäre Tat.

JANA SITTNICK

Torsten Schulz: „Boxhagener Platz“. Ullstein Verlag 2004, 190 S., 15,90 €