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Archiv-Artikel

Kontemplative Kunstfabrik

Der Dashanzi District ist das neue Kunstquartier von Peking. Abseits des Großstadtlärms haben sich auf dem Gelände einer ehemaligen Munitionsfabrik Clubs, Galerien und Ateliers angesiedelt. Die Stadtregierung fördert das Projekt: Mit Kunst lässt sich Geld verdienen und das Image verbessern

Man darf sich keine Sorgen machen, man muss einfach machen, sagt eine GaleristinWer in Dashanzi etwas werden will, muss mit den westlichen Erwartungen spielen

VON SUSANNE MESSMER

Schon die Taxifahrt gestaltet sich anders. Zahlt man in Peking meist nicht mehr als ein oder zwei Euro, ganz egal, wohin man will, dann muss man zum Dashanzi Distrikt mit drei, vier Euro rechnen. Betritt man dann das Ziel, ein Kunstquartier auf dem Gelände einer ehemaligen Munitionsfabrik, hat man das Gefühl, Peking verlassen zu haben. Der Verkehrslärm schwillt ab, zum ersten Mal nimmt man wahr, wie laut Pappeln rascheln können. Doch ist man hier nicht nur in einem kontemplativen Künstlerdorf gelandet, das Quartier funktioniert – und das ist neu in China – auch als Kunstfabrik: Schaut man etwas genauer hin, laden überall Künstlerateliers und Galerien in ihre lichtdurchfluteten Räume mit edlen, gewölbten Fenstern. Dashanzi, auch einfach nur 798 genannt, ist im Augenblick der Ort, über den in Peking alle Zeitungen berichten, den man auf keinen Fall verpassen darf. Außerdem hat das Quartier dieser Tage einen großen Erfolg zu feiern: Dank zweier schön gemachter Bücher über das Quartier und vor allem dank eines eben zu Ende gegangenen Festivals, auf dem viele Ausstellungen eröffnet wurden, Filmreihen und Konzerte zu sehen waren, scheint seine Zukunft endlich gesichert. Vor wenigen Tagen haben sich lokale Politiker dazu durchgerungen, den Abriss zu untersagen.

1954 wurde die Munitionsfabrik entworfen, und einer der Gründe, warum Dashanzi mit so klaren, funktionalen Formen glänzt, ist der Umstand, dass einige der ostdeutschen Architekten vom Bauhaus beeinflusst waren. In den Achtzigerjahren wurde die Fabrik privatisiert, und vor vier Jahren begannen die Besitzer die Räume an Privatpersonen zu vermieten. Weil die Miete so niedrig war, richteten sich erste Künstler ein. Zwei Jahre später folgten Galerien und einer der besten Buchläden Chinas für zeitgenössische Kunst. Zum ersten Mal öffnete sich das Gelände für die Öffentlichkeit und ging damit einen Schritt, wie ihn bislang keines der chinesischen Künstlerdörfer, die seit Anfang der Neunzigerjahre in Peking entstanden sind, gegangen ist. Im Quartier Songzhuang, wo sich dreihundert Hungerkünstler unter die Landbevölkerung gemischt und nicht einmal Namenschilder an ihre Türen genagelt haben, geht es etwa ganz anders zu: Eine einzige Galerie öffnet dort ihre Tore und auch das nur nach Voranmeldung.

In Dashanzi haben sich fast zehn Galerien und fünfzig offene Ateliers angesiedelt, Modewerkstätten, in denen man sich Seidenkleider auf den Leib schneidern lassen kann, Werkstätten für Kerzenhalter und anderes Kunsthandwerk. Die zahlreichen Cafés, Clubs und Bars sorgen dafür, dass es in Dashanzi auch nachts hoch hergeht. Nirgendwo in Peking scheinen sich zur Zeit Kunst und Kommerz höflicher die Hand zu reichen – und nirgendwo in Peking scheint das kommunistische China weiter weg.

So zum Beispiel im Yan Club. Der öffnete 2002 als Erster im Distrikt. Tagsüber funktioniert er als Galerie, abends als Veranstaltungsort für alle möglichen Events. Seine Betreiberin Bing Bing ist eine stadtbekannte Figur. Gerade hat sie einen Roman über die Zeit mit ihrem ersten Club geschrieben, das berühmte Jam House. Dieser Tage hat Bing Bing keine Zeit für niemanden. Bald wird im Yan ein bekannter DJ auflegen. Sie nimmt sich nur einen Moment für das Interview, erzählt ein wenig über ihr Buch, springt immer wieder auf, um eine Mitarbeiterin zum Flughafen zu schicken. Dass Dashanzi bestehen wird, führt sie auf den Pragmatismus ihrer Landsleute zurück. „Man darf sich nicht so viele Sorgen machen, man muss einfach machen“, sagt sie zum Schluss, schon wieder nur noch zwischen Tür und Angel.

Dass es genau dieser Aktionismus ist, der in China sehr oft zu den unwahrscheinlichsten Zielen führt, zeigt sich in Dashanzi sehr plastisch. Der Künstler, Organisator des Festivals, Bewohner des Geländes, Mitbesitzer einer Galerie und eines Cafés, Huang Rui – einer der Ersten, die auch das Marktpotenzial des Areals erkannten – muss den Gesprächstermin gleich zweimal verschieben. Bei einem schnellen Espresso erzählt er dann sehr lustig von seinem Triumph: Wie vor ein paar Tagen Pekings Politiker zu Besuch waren, vor manchen Bildern auf den Zehenspitzen wippten, sich ans Kinn fassten und dieses oder jenes Gemälde interessanter fanden als andere. Was dann geschah, hat es noch nie gegeben: Erstmals erkannte die Regierung, dass man mit Kunst Geld verdienen kann und dass Kunst auch das Image pflegt. „China ist ein sehr freies Land“, sagt Huang Rui fröhlich. „Es hat eine Regierung, die eine Firma daran hindert, nur nach Rendite zu handeln.“

War Peking bisher neben Schanghai und Kanton nur eine von den drei Hauptstädten für zeitgenössische Kunst in China, könnte sich das mit Dashanzi ändern. Das findet auch Alexander Ochs von der Berliner Galerie Prüss & Ochs. Ein paar Monate lang versuchte er sich mit seiner chinesischen Dependance, der White Space Galerie in Schanghai, dann zog er 2003 weiter nach Dashanzi. „Chinesische Käufer gibt es zwar in beiden Städten noch keine“, sagt er, „dafür kommen in Peking aber wenigstens chinesische Besucher, die sich für Kunst interessieren.“

Der chinesische Kunstmarkt steckt noch immer in den Anfängen, es gibt wenige potenzielle Käufer, und selbst bei denen gehört es einfach noch nicht zum Habitus, Kunst zu kaufen. Da hilft nur abwarten und stur sein, denkt Alexander Ochs. Seine Galerie bewegt sich auf höchstem ästhetischem Niveau: Sie ist luftig, hell, im Augenblick ist eine Ausstellung mit dem Titel „Mensa“ zu sehen, in der acht chinesische und ein deutscher Künstler präsentiert sind, die sich vor Jahren während des Studiums in Deutschland kennen lernten. Einer davon ist Miao Xiachuo. Seine großen Fotografien zeigen die Puppe eines konfuzianischen Gelehrten in traditioneller Tracht. Der Künstler hat diese Puppe in Flughäfen und an Bushaltestellen in Europa und Asien gestellt und die komische Karambolage von fremder Tradition und vertrauter Moderne dokumentiert.

Nicht ganz so weiträumig, dafür aber umso lebendiger geht es in der ältesten Galerie vor Ort zu. In der Galerie Beijing Tokyo ist Vernissage, chinesische und japanische Künstler stellen Arbeiten zur Veränderung ihres Lebensraums vor. Fotos des japanischen Künstlers Teruaki Nagamine zeigen neue Apartmenthäuser in Peking, Tokio und Hongkong. Eine chinesische Künstlergruppe hat eine zusammenklappbare Küche, eine andere ein hängendes Schlafzimmer konstruiert, und Liu Zhizhi, ebenfalls aus China, hat sich einen Studierraum aus Pappe ausgedacht. Weil man, wie er meint, in Studierräumen heute Arbeiten nachgeht, unter denen sich kein Mensch mehr etwas vorstellen kann, lässt sich seine Konstruktion aus Stellwänden zu keinem abgeschlossenen Raum installieren.

Eine der Annehmlichkeiten von Dashanzi ist, dass man sich zwischen den Galeriebesuchen immer wieder von der vielen Kunst erholen kann. An diesem Tag treten zum Beispiel anlässlich der Vernissage im grünen Innenhof vor der Galerie zwei chinesische Rapper auf. Ein paar Arbeiter aus den wenigen Wäschereien und Schraubenfabriken, die auf dem Gelände übrig geblieben sind, beäugen schüchtern das Publikum und trauen sich nicht, vom angebotenen Wein zu nehmen. Einen Moment lang hat man das Gefühl, es sind vielleicht doch ein paar zu viele westliche Besucher da. Es ist ja auch verlockend: Wo in Europa oder Amerika bekommt man so viel geballten industriellen Charme, so viele Künstler auf einmal?

Es ist das alte Spiel mit der Exotik, das sich in China noch komplexer gestaltet als anderswo und das sich auch sehr deutlich in Dashanzi spiegelt. Wer in einem Kunstquartier wie diesem nicht einfach nur Klausur, sondern auch ein bisschen Lebensqualität will, muss laut schreien und vor allem mit den europäischen Erwartungen kokettieren. So wie etwa das Künstlerehepaar Sun Yuan und Peng Yu, die tote Hunde zwischen Linsen klemmen und ihnen mit gebündeltem Licht das Hirn wegschmoren oder menschliche Leichen ausstellen.

Oder Zhao Bandi, der sich seit Jahren ausschließlich im Zwiegespräch mit seinem Panda-Teddy fotografieren lässt: Zwar sieht man seine ironischen Propaganda-Plakate auch in der Pekinger U-Bahn, dennoch ist er vor allem wegen seines Erfolgs in Europa zu Geld gekommen. Er gehört zu den wenigen der neureichen Künstler Chinas, die dies in ihrer Arbeit reflektieren – er stellt sich zum Beispiel mit seinem Auto aus, dem einzigen Alpha Romeo mit Verdeck in der Stadt – dennoch arbeitet und lebt er nicht im Quartier. Ihm scheint vor allem wichtig, präsent zu sein, wo etwas los ist.

Doch ticken nicht alle Künstler im Quartier so geräuschvoll. Auch zurückgezogene Formalisten, schwierige Performance-Künstler, Videotüftler und Klanginstallateure arbeiten hier. Bei einem Besuch Ma Shuqings in seinem Atelier kommt das Gespräch sofort darauf, wie sehr sich die Fronten verschoben haben: Die täglichen Schwierigkeiten entstammen keinem Bilderbuch, das Volksrepublik China heißt oder kommunistische Schreckensherrschaft – es gehe heute darum, meint er, in der chinesischen Gesellschaft anzukommen, ohne sich dabei prostituieren zu müssen. Er, der nach dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens mehr als zehn Jahre in Deutschland und in Frankreich gelebt hat, erzählt, dass es einem kleinen Teil chinesischer Künstler heute besser geht als vielen europäischen. Vom Brachialscherz dieser zynischen Realisten und politischen Pop-Art-Künstler mit ihren Maoköpfen und Zitaten aus der Zigarettenindustrie in den Bildern, die in Europa Mitte der Neunzigerjahre die höchsten Preise erzielten, hält er nichts.

Ma Shuqing mag es lieber abstrakter. Seit kurzem fotografiert er menschenleere Räume wie luxuriöse Wohnzimmer, Tennisplätze oder Supermärkte, vereinfacht diese Fotos am Computer und malt sie dann ab, bis fast nur noch Linien und Flächen übrig sind. Dass die Räume mit dem zunehmendem Wohlstand ihrer Bewohner immer kahler werden – das ist eine Entwicklung, die in China zwar noch nicht so alt ist wie in Europa: Trotzdem kann man sich als europäischer Betrachter mit den Bildern eines Ma Shuqing identifizieren. Sich vor seinen Bildern im öden Hamsterrad der Gedanken über das Eigene und das Andere zu verheddern, führt nicht weit.

Am Ende erzählt Ma Shaoqin noch, wie sehr ihm in letzter Zeit Dashanzi auf die Nerven geht. Er gehört zu einer kleinen Untergruppe von Künstlern, die ihre Türen nicht mehr dem Publikum öffnen. „Manchmal fühle ich mich hier wie im Zoo“, sagt er müde lächelnd und gibt zu, sich schon nach einem anderen Atelier umgesehen zu haben. Das allerdings wäre schlecht für das Kunstquartier. Dashanzi wird nur so lebendig sein, solange dort Künstler arbeiten wie er. Sollte hier irgendwann nur noch Kunst verkauft werden, dann wäre das Quartier keine so lange Reise mehr wert.