: Engagierte Nichtwähler
Am Sonntag wird wohl ein geringerer Anteil der deutschen Wahlberechtigten als je zuvor an der Europawahl teilnehmen. Sind die Deutschen politikverdrossen? Keineswegs, behauptet eine Studie
VON SASCHA TEGTMEIER
Gehen Sie zur Europawahl? Statistisch betrachtet lautet Ihre Antwort wahrscheinlich „Nein“. Nur 42 Prozent der Deutschen wollen einer Umfrage zufolge ihr Kreuzchen für die Zusammensetzung des Parlaments in Straßburg machen. Bei der ersten Wahl, 1979, waren es noch 65 Prozent. Seither schwindet das Interesse.
Das Interesse wächst
Auf der Suche nach Erklärungen für die Wahlmuffligkeit ist das Schlagwort der Politikverdrossenheit schnell zur Hand. Dass die Deutschen die Parteien nicht mehr auseinander halten können und mit der Politik generell unzufrieden sind, führt zu lähmendem Verdruss – so die landläufige Meinung. Die Deutschen sind aber gar nicht so politikverdrossen, parteienmüde und demokratiefrustriert wie es angesichts der zu erwartenden Wahlbeteiligung den Anschein hat. Das behauptet jedenfalls die in dieser Woche erschienene Studie „Politische Partizipation in Deutschland“ im Auftrag der Bertelsmann Stiftung. Die telefonische Befragung von 1.241 Wahlberechtigten hat ergeben, dass die BundesbürgerInnen zurzeit mehr an Politik interessiert sind als während der gesamten Neunzigerjahre.
Aber warum gehen dann die angeblich so politikbegeisterten und europaeuphorisierten Deutschen nicht zur Europawahl? Gerade das ist doch das Grundrecht, auf das sich das demokratische System stützt. Insbesondere angesichts der abschließenden Verhandlungen zu einer EU-Verfassung müsste diese Wahl ein Publikumsrenner sein. Warum wird das am Wochenende dennoch nicht so sein?
Die Verfasser der Bertelsmann-Studie haben auf diese Frage zwei Antworten gefunden: Zum einen verstehen die Deutschen das Mittel der Wahlenthaltung immer mehr als „gleichberechtigte Handlungsoption“, um ein gezieltes Signal an die Politik zu senden. Mehr als ein Drittel der Befragten sind bereits bewusst nicht zur Wahl gegangen, genauso viele ziehen eine protestmotivierte Wahlenthaltung in Betracht.
Zum anderen erhalten „unkonventionelle Beteiligungsformen“ der Studie zufolge immer mehr Zuspruch. Die Menschen starten Unterschriftensammlungen, gründen Bürgerinitiativen oder veranstalten Kundgebungen. Mehr als ein Drittel der Befragten glaubt, auf diese Weise auf die Politik Einfluss nehmen zu können. Vor zehn Jahren waren das nur halb so viele. Die Autoren der Studie leiten aus diesen Beobachtungen ein „emanzipierteres Politikbewusstsein“ der Deutschen ab: Anstatt stur zur Wahl zu gehen, nehmen die Bürger die Sache selbst in die Hand.
In Bezug auf die Europawahl sind diese positiven Deutungen der schlechten Wahlbeteiligung nicht überzeugend, denn die bittere Wahrheit ist eine andere: Die EU interessiert einfach niemanden. Das belegt auch die Bertelmann-Studie. Ihr zufolge halten nur etwas mehr als die Hälfte der Deutschen die in Brüssel oder Straßburg gefällten Beschlüsse persönlich für wichtig. Wer weiß schon, was dort in den vergangenen fünf Jahren gemacht wurde? Wer kennt den Namen seines Europaabgeordneten?
Den Deutschen sind die EU-Themen viel zu fern. Diese Distanz zeigt sich auch an den Wahlkampagnen zur Europawahl. Die Parteien werben nicht mit europäischen, sondern mit deutschlandzentrierten Themen: „Deutschland kann mehr“, plakatiert zum Beispiel die CDU.
Europa bleibt Ausland
Und auch die Medien verstärken diesen Trend. Denn solange Nachrichten aus Brüssel und Straßburg auf den Auslands- und nicht auf den Inlandsseiten der deutschen Tageszeitungen stehen, wird auch keine europäische Öffentlichkeit entstehen.
Ohne diese wird es keine gemeinsame Identität geben, die nötig ist, damit die Bürger der einzelnen Nationalstaaten sich politisch engagieren. Eine Grundvoraussetzungen für politisches Engagement bringen die Deutschen jedenfalls nachweislich mit: Sie sind sehr unzufrieden mit der Arbeit der Politiker, ganz generell. Drei Viertel der bei der Bertelsmann-Studie Befragten glauben, dass die führenden Politiker ihren Aufgaben nicht gerecht werden. Diese Unzufriedenheit könnte ein Motor für politische Beteiligung sein: Wer unzufrieden ist, will Veränderung.
Doch die Bürger wissen nicht, wo und wie sie die Europäische Union ändern könnten. Das wird sich nur ändern, wenn die Europapolitiker sie mehr in ihre Entscheidungen einbeziehen. Ein erster Schritt wäre zum Beispiel ein Volksentscheid zur EU-Verfassung. Eine solche Wahl würden die Menschen gewiss als wichtig ansehen, und sie würden ihre Stimme abgeben. Am Sonntag jedoch bleiben die meisten daheim.