: „Acht Stunden Verwahrung“
Gezielte Förderung bringt mehr als teures ganztägiges Kinderhüten, meint Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD). In Berliner Kitas werde zu wenig vorgelesen: „Kinder kennen nicht einmal Märchen“
Interview ROBIN ALEXANDER
taz: Berlin gibt mehr Geld für die Bildung aus als andere Bundesländer. Haben wir auch die besseren Resultate?
Thilo Sarrazin: Leider nein. Beim Thema Bildung ist es wie bei so vielen Themen in Berlin: Wir leisten uns einen viel höheren Input als andere, ohne irgendeinen höheren Output nachweisen zu können.
Aber die gute Kita-Ausstattung Berlins wird doch sogar als Standortfaktor gepriesen.
Wir haben hier tatsächlich eine bessere Ausstattung als irgendwo sonst in der Bundesrepublik. Aber bekommen wir auch bessere Resultate? Ich habe Zweifel. Die Sprachstandserhebung „Bärenstark“ hat deutlich gemacht: Die Berliner Kinder haben enorme sprachliche Defizite, obwohl die Kinderbetreuung nirgendwo so intensiv ist wie bei uns. Wir sollten nicht nur fragen, wie viele Stunden am Tag Kinder betreut werden, sondern auch, wie sie betreut werden. In Berliner Kindertagesstätten wird zum Beispiel viel zu wenig vorgelesen. Die Kinder kennen in der Regel nicht einmal Grimms Märchen! Sprache wird aber über verbalen Kontakt vermittelt. Es reicht nicht, die Kinder einfach stundenlang spielen zu lassen. Vier Stunden gezielte Förderung in einem gut geführten Halbtagskindergarten bringen mehr als acht Stunden Verwahrung.
Rechtfertigt nicht die schwierige Sozialstruktur in weiten Teilen der Stadt die höheren Ausgaben für Bildung?
Das ist doch eine Legende! Ein hoher Anteil von Ausländern oder Arbeitslosen wird immer als Begründung für mehr Geld herangezogen. Aber schauen wir uns doch die realen Zahlen an: Berlin hat einen Ausländeranteil von 13 Prozent. Das soll viel sein? Frankfurt am Main hat 32 Prozent, Stuttgart 23, Wuppertal 16 und das beschauliche Bonn mit 14 Prozent immer noch mehr als wir. Diese Werte habe ich mir nicht ausgedacht, die sind vom Deutschen Städtetag. Die überhohen Bildungsausgaben Berlins sind nicht mit einem hohen Ausländeranteil zu rechtfertigen!
Aber hier gibt es doch Problembezirke mit extrem hohem Ausländeranteil. Denken Sie an Kreuzberg oder Neukölln …
Das gibt es doch anderswo auch, etwa Köln-Ehrenfeld oder Hamburg-Wilhelmsburg. Es gibt keine spezifische Berliner Situation. Schauen wir uns auch hier die Zahlen an. Das Statistische Landesamt gibt für Friedrichshain-Kreuzberg einen Ausländeranteil von 22,3 Prozent an, für Neukölln 21,3. Das ist kein höherer Anteil als in München. Unser Bezirk mit dem höchsten Ausländeranteil ist Mitte mit 26,8 Prozent. Der Ausländeranteil des bürgerlichen Frankfurts ist höher.
Dort stehen aber mehr Menschen in Lohn und Brot.
Nein, für die Arbeitslosenzahlen gilt das Gleiche wie für den Ausländeranteil. Berlin ist hier in keiner besonderen Situation. Eine Stadt wie Duisburg hat ähnliche Arbeitslosenzahlen und einen ähnlichen Ausländeranteil. Es ist eine Berliner Lebenslüge, Mehrausgaben mit einer schwierigen Sozialstruktur zu erklären.
Braucht Berlin auch keine kleineren Schulklassen als andere Städte?
Berliner Schüler müssen nicht in kleineren Klassen sitzen, sondern mehr lernen. Beides hat miteinander nicht unbedingt etwas zu tun.
Wie meinen Sie das?
Es besteht kein statistisch nachweisbarer Zusammenhang zwischen Klassengröße und Lernerfolg. Bei der Pisa-Studie haben die Länder mit den durchschnittlich größten Klassen am erfolgreichsten abgeschnitten: Bayern und Baden-Württemberg.
Sie argumentieren, mehr Geld bringt keine Erfolge in der Bildungspolitik.
Ich ziehe keinen Umkehrschluss: Ich behaupte nicht, weniger Ausgaben bringen in jedem Fall bessere Qualität.
Was dann?
Wir müssen bürgerliche Werte und Leistungsorientierung vermitteln. In Berlin sind aus einer spezifisch historischen Situation heraus teilweise Lehrer und Eltern anders sozialisiert worden als in der übrigen Bundesrepublik. Das ist natürlich schwer zu ändern.
Der Staat kann gar nichts tun?
Doch. Wir müssen die Einhaltung von Leistungsstandards kontrollieren. Für die gesamte Berliner Verwaltung gilt: Wir haben mehr Vorschriften und mehr Hierarchie als anderswo, aber viel weniger Kontrolle.