piwik no script img

Archiv-Artikel

Würde und Recht

Das Völkerrecht muss gegen den moralischen Führungsanspruch der USA gestärkt werden. Nur so wird sich wirklich der „Kampf gegen den Terror“ gewinnen lassen

Die Formel „Kampf gegen das Böse“ definiert moralische Kategorien im nationalen Alleingang

Die US-amerikanische Außenpolitik löst bei Europäerinnen und Europäern oft Ratlosigkeit aus, gelegentlich Zustimmung, das ganze Spektrum von Empörung bis zu Resignation. Man redet über den uneinholbaren Rüstungsvorsprung und den Anspruch auf Hegemonie. Indessen schwingen beim „Kampf gegen das Böse“ Motive der politischen Weltsicht mit, die erheblich tiefer liegen.

Jeder Mensch trägt Gutes und Böses in sich. Es liegt in seiner moralischen Verantwortung, ob er dem Guten oder dem Bösen den Vorzug gibt. Sollen moralische Kategorien aber allgemein verbindlich werden, müssen sie ein bestimmtes Verfahren durchlaufen. Eine öffentliche Auseinandersetzung darüber wird nötig, was auch kollektiv als gut oder böse gelten soll. Dieser Vorgang wird Demokratie genannt, und das Resultat ist gültiges Recht. Das Gute und das Böse werden in verschiedene Rechtsnormen übersetzt, zum Beispiel das Gute in Grundwerte, das Böse in strafrechtlich verbotene Handlungen. Sobald das Gute und das Böse in gültiges Recht gefasst worden sind, werden sie nicht mehr als „gut“ oder „böse“ bezeichnet. Gesetz ist moralisch neutral. Ein Straftäter ist rechtlich strafbar, er ist nicht böse. „Recht“ ist der Name für kollektiv gültig erklärte Moral.

Recht entsteht immer durch gedanklichen Austausch: Einigen sich zwei Personen darüber, was zwischen ihnen gelten soll, so entsteht ein Vertrag. Der parlamentarische Austausch führt über Mehrheitsentscheide zu Gesetzen. Internationales Recht entsteht durch das Zusammenwirken von Staaten und wird in seinen Grundzügen von den nationalen Parlamenten genehmigt. Im Rahmen der Europäischen Union wird dasselbe Verfahren in einem langsamen Prozess auf die supranationale Ebene übertragen. Eine Person allein kann keinen Vertrag mit sich selbst abschließen, wie auch ein Parlamentarier allein kein Gesetz verabschieden kann. Das Völkerrecht wurde im Westfälischen Frieden von 1648 erfunden. Obwohl es immer wieder gebrochen wurde, steht für Europa seither immerhin im Grundsatz fest, dass auch im Verhältnis zwischen den Staaten Recht nur durch gedanklichen Austausch entstehen kann. Eine europäische Nation allein kann nicht definieren, was das Gute und was das Böse ist. Sie kann diese Kategorien allein nicht in Recht fassen.

Anders die Vereinigten Staaten, die von einem anderen Verständnis der Menschenwürde ausgehen. Der Unterschied liegt in der Begründung der Nation. In den meisten Ländern – insbesondere auch in allen europäischen – wird die Nation rein staatspolitisch begründet. Die US-amerikanische Nation hat sich demgegenüber immer religiös und moralisch begründet, sie verkörpert in dem ihr eigenen Selbstverständnis das „Gute“ schlechthin. US-nationale Identität leitet Menschenwürde davon ab, dass man sich mit dem Guten identifiziert, für das diese Nation steht. So verstandene Menschenwürde erreicht Universalität, indem es weltweit allen Menschen offen steht, sich zu den Werten zu bekennen, die diese Nation verkörpert. Daraus erklärt sich das Sendungsbewusstsein vieler US-Amerikaner.

In dieser Weltsicht gibt es zweierlei Menschen: Die „einen“ bekennen sich zu den Werten dieser Nation, für die „andern“ ist das nicht oder noch nicht der Fall, weil sie durch die Umstände daran gehindert werden. US-nationale Identität kann in ihrer Übersteigerung dazu führen, dass das nationale Interesse der Vereinigten Staaten gleichgesetzt wird mit dem Interesse der ganzen Menschheit, weil in dieser Weltsicht die US-Nation das Gute „treuhänderisch“ für die ganze Menschheit verwaltet. So verstandene Menschenwürde wird national zugeordnet.

Verzichtet die Nation hingegen auf eine religiöse oder moralische Begründung und definiert sie sich rein staatspolitisch, so wird im Verständnis der Menschenwürde die Verbindung mit dem Prinzip der Gleichheit möglich. Dies bedeutet, dass Würde dem Menschen dann zukommt, wenn alle Menschen dieselbe Würde haben. Menschenwürde kann demnach nicht abhängig sein von einer bestimmten Religion.

Diese Einsicht hat sich in Europa nach den Religionskriegen 1648 im Westfälischen Frieden durchgesetzt. Die Entsetzlichkeiten des Zweiten Weltkrieges waren nicht religiös, sondern rassistisch und nationalistisch begründet. Dies führte in Europa nach 1945 zur Einsicht, dass Menschenwürde auch nicht von einer bestimmten Nationalität abhängig sein kann. Die Einsicht wurde zwar in Frage gestellt durch die Kriege auf dem Balkan in den Neunzigerjahren, aber es wird um sie gerungen. So verstandene Menschenwürde lässt es nicht zu, dass man die Menschen einteilt in die „einen“ und die „Anderen“, darin liegt ihre Universalität. Die US-amerikanische Außenpolitik macht das unterschiedliche Verständnis der Menschenwürde plötzlich spürbar. Wer den moralischen Führungsanspruch der Vereinigten Staaten nicht akzeptiert, wird zu den „Anderen“ gezählt. US-amerikanische Außenpolitik wirkt auf diese „Anderen“ entwürdigend, egal auf welchem Kontinent dieses Planeten sie leben.

Die Formel „Kampf gegen das Böse“ definiert moralische Kategorien im nationalen Alleingang. Ein internationaler Austausch darüber ist nicht vorgesehen, man kann sich dieser Sicht nur anschließen oder nicht anschließen. Deshalb negiert diese Formel das Völkerrecht, sie setzt die Verfahren zur kollektiven Einigung über das Gute und dessen Umsetzung ins Völkerrecht außer Kraft. Derselbe moralische Alleingang führt zur Ablehnung des Internationalen Strafgerichtshofs, in dem die kollektive Einigung über das Böse und dessen Umsetzung in Völkerstrafrecht institutionalisiert worden ist. Die völkerrechtliche Einbindung wird ersetzt durch eine nationale: Der „Kampf gegen das Böse“ wird vom US-Kongress abgesegnet, und Terroristen werden statt vor ein internationales Gericht vor US-Militärgerichte gestellt.

Wer den moralischen Führungsanspruch der USA nicht akzeptiert, wird zu den „Anderen“ gezählt

Verglichen mit innerstaatlichem Recht ist Völkerrecht zwar erst im Wachsen begriffen und noch nicht gefestigt. Dennoch ist es das einzige Gefäß für international gültig erklärte Moral. Nur wenn auch international die Moral in Recht gefasst wird, kann die Nation von einer moralischen Begründung befreit und kann die gleiche Würde aller Menschen angestrebt werden. Damit wird die Stärkung des Völkerrechts zu einem zentralen Punkt, der auch für andere Bereiche von Bedeutung ist. Terrorakte zum Beispiel wurzeln nicht nur in Armut, sondern auch in einem Gefühl der Entwürdigung, ausgelöst durch die moralische Ausgrenzung aufgrund einer übersteigerten US-nationalen Identität.

In ihrem Bestreben, das Vökerrecht zu stärken, sind die europäischen Staaten keineswegs allein. Säkularisierte Staaten aus allen Kulturkreisen haben dasselbe Interesse. Europa kann aber auch auf viele US-Amerikaner zählen, die mit der europäischen Ideengeschichte vertraut sind und ihr Land nicht als Antithese zum „alten“ Europa definieren. GRET HALLER