: Die Kerze brennt an beiden Enden
Aus Angst, ihre Stammwähler zu verlieren, greift die SPD auf traditionelle Symbole und Rhetorik zurück. Das wirkt wenig überzeugend und verschreckt zudem die „neue Mitte“
So ratlos, so verstört, so fahrig wie in diesen Tagen ist die deutsche Sozialdemokratie noch nie in ihrer Geschichte durch die gesellschaftliche Landschaft gestolpert. Rückschläge und Niederlagen hat diese große politische Bewegung in ihrer 141-jährigen Historie zur Genüge erleiden müssen. Sozialdemokraten sind unterdrückt, verfolgt oder bei Wahlen vernichtend geschlagen worden. Doch in keiner einzigen Phase ihrer langen Geschichte quer durch das 19. und das 20. Jahrhundert haben sich in der deutschen Sozialdemokratie so viel Verzagtheit und so viel Desorientierung über den eigenen Ort, das eigene Handeln, die eigene Mission breit gemacht.
Als Kinder der Industrialisierung fanden sich die Sozialdemokraten in der Welt des klassischen Industrialismus stets zurecht. Dies war, bei allen Widrigkeiten, immer ihre Welt, die Welt der rauchenden Schlote, der harten körperlichen Arbeit, der Klassensolidarität, der disziplinierten Massenorganisationen und des kollektiven Kampfes um mehr Rechte und mehr Wohlfahrt für die kleinen Leute.
Diese Welt existiert im 21. Jahrhundert noch immer. Doch sie ist eine Welt in Bedrängnis und auf dem Rückzug. Längst wird sie in ihrer Prägekraft und „Kulturbedeutung“ (Max Weber) für die deutsche Gesellschaft übertroffen von den so überwältigenden wie nicht rückholbaren Tendenzen hin zur Welt der Informationen und der Individualität, des Wissens und der Dienstleistungen. Diese neue Welt hat veränderte Einstellungsmuster und Erwartungen hervorgebracht, neue Leitbilder, neue Milieus und Mentalitäten, die sich von denen aus der Welt des Industrialismus fundamental unterscheiden. „Zu dieser Jahrtausendwende ist eine neue Welt dabei, Form anzunehmen“, stellt der Soziologe Manuel Castells bündig fest. Sicher ist dabei vor allem eins: dass sie sich in rasender Geschwindigkeit von fast allem entfernt, was die klassische deutsche Sozialdemokratie mit gutem Recht als ihre Welt begriff.
So ist die SPD in unkartiertes Gelände geraten. Sozialdemokratische Parteien anderer westeuropäischer Länder haben die Herausforderung angenommen – die deutsche Sozialdemokratie hingegen fremdelt. Weder als Ideengemeinschaft noch als Organisation hat sie sich bislang entschlossen darangemacht, die Großtrends des beginnenden 21. Jahrhunderts auf zeitgemäße Weise zu verarbeiten.
In den skandinavischen Ländern etwa ist es Sozialdemokraten gelungen, eine positive Wechselwirkung von erneuerter Sozialstaatlichkeit und effizienter Ökonomie in Gang zu setzen – und systematisch mit dem traditionellen sozialdemokratischen Narrativ der Gerechtigkeit und der gleichen Lebenschancen für alle zu verknüpfen. Die deutsche Sozialdemokratie hingegen verkämpft sich bis heute in fruchtlosen Nachhutgefechten: Gerechtigkeit oder Dynamik, Staat oder Markt, hergebrachter Sozialstaat oder nackter Neoliberalismus, heißen in ihren Debatten noch immer die vermeintlichen Alternativen. Anderswo ist man weiter, freier, unverkrampfter – und gerade deshalb erfolgreicher darin, klassisch sozialdemokratische Ziele zu erreichen.
Sämtliche Versuche sozialdemokratischer Modernisierung in Deutschland erfolgten in den vergangenen Jahren allein unter dem Druck des realen Wandels der Verhältnisse. Man handelte, weil man musste. Und man reagierte, statt zu agieren. Wäre nur genug Geld da, machte man lieber so weiter wie einst.
Weder das Schröder-Blair-Papier von 1999 noch die Agenda 2010 waren strategische Projekte traditionsgestützter Erneuerung. Beide Anläufe bedeuteten vor allem hastige Reaktionen eines sozialdemokratischen Regierungschefs auf unabweisbar gewordene politische Herausforderungen. Als anschlussfähig an die Präferenzen der tief im Erfahrungskosmos des 20. Jahrhunderts verhafteten sozialdemokratischen Stammklientel erwiesen sich diese Vorhaben in keinem Fall. Nicht eine programmatisch und organisatorisch für das 21. Jahrhundert zeitgemäß erneuerte Sozialdemokratie haben sie deshalb bislang geschaffen, sondern den ersatzlosen Zerfall früherer sozialdemokratischer Identitäten und Gewissheiten weiter beschleunigt.
Seit der Inthronisierung der neuen SPD-Führung im März dieses Jahres hat die Partei ihr historisches Dilemma durch eigenes Zutun nun noch einmal auf geradezu atemberaubende Weise verstärkt. Das Ergebnis der Europawahl belegt: Inzwischen brennt die sozialdemokratische Kerze an beiden Enden. Denn seit Monaten wirkt der von der Parteispitze beharrlich vorgetragene Versuch, verunsicherte Mitglieder alten Schlages, frustrierte Funktionäre und vormalige Stammwähler aus dem klassischen Arbeitnehmermilieu durch den therapeutischen Rückgriff auf traditionelle Symbolik und Rhetorik zu beeindrucken, vor allem selbstdestruktiv.
Die Wiederkehr der Bergmannschöre und des offensiven Genossen-Du, der heute seltsam fremd anmutende Appell an die „rechtgläubigen“ sozialdemokratischen „Brüder und Schwestern“ – das alles lässt sogar die so Umgarnten ziemlich kalt. „Das Volk versteht das meiste falsch; aber es fühlt das meiste richtig“, erkannte Kurt Tucholsky einst. Heute spüren die vormaligen SPD-Traditionstruppen genau, dass ihnen selbst das noch so inbrünstige Absingen ältlichen Liedguts keine untergegangenen Zeiten zurückbringen wird.
In der wirklichen Welt des 21. Jahrhunderts kommt der Steiger schon längst nicht mehr vor. Nicht an Folklore mangelt es den übrig Gebliebenen des industriellen Zeitalters heute, sondern an kreativer sozialdemokratischer Politik, die ihnen und ihren Kindern helfen könnte, in den gänzlich umgekrempelten Verhältnissen der Gegenwart in Würde ihr eigenes Leben zu leben.
Umso niederschmetternder wirkt die symbolische und stilistische Regression der SPD heute auf die Angehörigen der jüngeren, gebildeten und urbanen Milieus. Dies ist die erste Generation nach Betriebsrente und Unkündbarkeit. Wo sie sich noch vor wenigen Jahren durch die Integrationsformel von der „neuen Mitte“ angesprochen fühlte und später auch den Politikwechsel der Agenda 2010 letztlich für richtig und notwendig hielt, hat sich tiefes Befremden über die sozialdemokratische Politik breit gemacht.
Gerade jene modernen, kulturell aufgeschlossenen und vor allem: ständig wachsenden Gruppen der postindustriellen Gesellschaft, die im 21. Jahrhundert zu Trägern einer erneuerten Idee von sozialer Demokratie sein könnten, erreicht die real existierende SPD derzeit überhaupt nicht mehr. Auch sie spüren ganz richtig: Diese Partei weiß mit den sehr konkreten Lebenslagen, Hoffnungen und Sorgen der Menschen in der neuen Welt des 21. Jahrhunderts wenig anzufangen, und sie spricht auch nicht deren Sprache.
Solange sich daran nichts ändert, sitzt die SPD weiter ratlos zwischen allen Stühlen. Diese neue Zeit braucht dringend eine neue Partei für soziale Demokratie. Sie wird sie bekommen. Ob das dann allerdings noch die SPD sein wird, ist heute nicht mehr sicher. TOBIAS DÜRR