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Archiv-Artikel

„Das Ziel wurde nicht erreicht“

Die Regierungsfähigkeit der Union ist nicht gesichert, kritisiert der Politologe Josef Janning. Die nationalen Interessen überwogen das Gesamtinteresse

INTERVIEW SABINE HERRE

taz: Herr Janning, Ihr Institut hat als Erstes eine europäische Verfassung gefordert. Diese gibt es nun. Haben Sie am Freitagabend gefeiert?

Josef Janning: Nein, haben wir nicht. Natürlich ist die Einigung auf die Verfassung ein wichtiger Schritt. Doch das eigentliche Ziel, die Regierungsfähigkeit einer EU mit 25 Staaten zu sichern, wurde nicht erreicht. Wir brauchen ein System, in dem es möglich ist, rationale Einzelentscheidungen zu treffen. Und nicht eines, in dem das Regieren durch Kompromisspakete dominiert. Nach dem Motto: Gibst du mir das, verzichte ich auf etwas anderes.

Die Verfassung hat über 250 Seiten. Was sind für Sie die drei wichtigsten Neuerungen.

Erstens sind EU-Entscheidungen jetzt an die Grundrechtecharta gebunden. Zweitens sind die Bereiche, für die die EU und für die die Nationalstaaten jeweils zuständig sind, nun systematischer abgegrenzt. Drittens wird anerkannt, dass die Gesetzgebung auf zwei Säulen ruht – auf dem Rat und dem Europaparlament.

Was hat die Regierungskonferenz am Entwurf des Konvents verwässert?

Der Konvent wollte mehr Politikbereiche in die Mehrheitsentscheidung überführen. Diese sollte zum Standardverfahren, bei dem es nur wenige Ausnahmen gibt, werden. Doch mehrere Regierungen waren nicht bereit, auf ihr Vetorecht zu verzichten. Der zweite Bereich betrifft den Abstimmungsmodus. Der Charme des Konventsentwurf der „doppelten Mehrheit“ war seine Einfachheit: 50 Prozent der Staaten, 60 Prozent der Bürger waren demnach für eine Entscheidung notwendig. Die Regierungen haben diesen Modus wieder verkompliziert. Es besteht jetzt kein großer Unterschied mehr zu den Regeln des Nizza-Vertrags.

Die kleinen Länder haben am Freitagnachmittag eine Einigung blockiert. Um was ging es?

Der Einfluss der großen Staaten sollten geschwächt werden, die Kleinen wollten ihre Möglichkeit, Entscheidungen blockieren zu können, stärken. Die Kleinen waren der Ansicht, mittlere Staaten wie Polen oder Spanien hätten ihre Interessen besser durchgesetzt. Als Kompromiss wurde den Kleinen schließlich auch mehr Sitze im Europaparlament zugesagt. Diese Zusage wird im Parlamentsalltag nichts Wesentliches ändern, zeigt aber, dass es beim Gipfel vor allem um die Sicherung der eigenen Machtposition ging. An dieser Haltung zu EU-Entscheidungen wird sich vorläufig nichts ändern. Das eigene Interesse ist den Regierungschefs wichtiger als das Gesamtinteresse der Union.

Über Steuerfragen, Soziales und die Außenpolitik muss weiterhin einstimmig entschieden werden. Wo gibt es bei den Mehrheitsentscheidungen überhaupt noch Fortschritte?

In der Innen- und Justizpolitik wurde eine „superqualifizierte“ Mehrheit eingeführt, hier ist die Zustimmung von 72 Prozent der Staaten nötig. Hätte man sie nicht eingeführt, wäre auch dieser Bereich in der Einstimmigkeit geblieben.

Auch die mehrjährige Finanzplanung bleibt einstimmig. Das heißt auch, das Europaparlament kann hier nicht mit entscheiden.

Das ist ein Rückschritt gegenüber Nizza. Dort war vorgesehen bei der Finanzplanung nach 2013 zu Mehrheitsentscheidungen über zu gehen. Jetzt ist für diesen Übergang ein erneuter Beschluss des Rats nötig.

In der strafrechtlichen Zusammenarbeit kann jedes Mitglied ein laufendes Gesetzgebungsverfahren suspendieren.

In diesem Bereich gibt es heftige Auseinandersetzungen zwischen den Mitgliedstaaten. Einige, wie zum Beispiel Deutschland, wollen viel weitergehen als etwa Italien. Daher bietet sich dieser Bereich für verstärkte Zusammenarbeit nur einiger Mitgliedstaaten an. Und zu dieser wird es wohl auch kommen. Zugleich stellt sich dann aber die Frage, wie sich diese Zusammenarbeit mit dem Schengen-System vereinbaren lässt. Warum sollen einzelne Staaten nur die Vorteile wie etwa fehlende Grenzkontrollen in Anspruch nehmen, zugleich aber mehr gemeinsame Sicherheitsmaßnahmen verweigern?

Eine verstärkte Zusammenarbeit einiger weniger Staaten bei der Außenpolitik muss nun einstimmig beschlossen werden. Damit blockiert sich die EU-Außenpolitik doch selbst.

Ja. Es ist ein Kontrollmechanismus. Die Staaten, die weniger Integration wollen, behindern diejenigen, die mehr wollen. Das wird die Integrationsbefürworter frustrieren und zu einer Diskussion führen, ob man außenpolitische Ambitionen noch im Rahmen der EU verwirklichen kann. Und das schwächt das Interesse und Engagement für die EU in den integrationsfreundlichen Staaten.

Die EU bekommt nun einen für zweieinhalb Jahre amtierenden Präsidenten. Die rotierende Präsidentschaft von Staat zu Staat wird also abgeschafft. Ist das ein Fortschritt?

Der künftige Präsident ist nicht viel mehr als ein Generalsekretär des Rats der Regierungschefs, der dessen Sitzungen vorbereitet. Gleichzeitig wurde eine Gruppenpräsidentschaft für die Ministerräte geschaffen. Und drittens leitet der europäische Außenminister und nicht der Präsident die Sitzungen des „Allgemeinen Rats“. Logischer wäre es gewesen, diesen Allgemeinen Rat, in dem die Außenminister über allgemeine EU-Fragen beraten, in einen Legislativrat umzuwandeln. In diesem würden dann nicht mehr die Außenminister, sondern zum Beispiel Europaminister sitzen. Ein solcher Legislativrat hätte, so der Konventsvorschlag, ebenso wie das Europaparlament Gesetze öffentlich beraten. Das aber wollten die Außenminister nicht. Denn das hätte ja bedeutet, dass sie an Einfluss verlieren.

Wie lang wird diese Verfassung Gültigkeit haben? Zeichnet sich schon die nächste Vertragsrevision ab?

Bisher bin ich davon ausgegangen, dass wir noch in diesem Jahrzehnt einen neuen Konvent zur Reform der Verfassung einsetzen werden. Doch vielleicht braucht die EU erst einmal den Praxistest. Die Erfahrung also, warum einige Bestimmungen nicht funktionieren. Dann werden auch die Bürger Europas die Notwendigkeit einer neuen Reformrunde besser verstehen.