: Die wildromantische Bergwelt der Börde
Im Heersumer Landschafts- und Treckingtheater hat das Absurde eine neue Heimat gefunden – und das ganze Dorf spielt mit
Von der Hildesheimer Börde heißt es, ihre höchste Erhebung sei die Zuckerrübe. Die aber steckt im Moment tief in der Erde, so schweift der Blick weit übers offene Land. Bis er an einem sonderbaren Gestänge mit roten Gondeln hängen bleibt. Mitten im Acker türmen sich die Überreste einer Seilbahn. Ein Mädel hastet vorüber, Heidi täuschend ähnlich. Der Typ dahinter könnte der Ziegenpeter sein, eine Bergsteiger-Gruppe und allerlei seltsames Getier folgen.
Was ist hier los? Die Heersumer haben wieder zugeschlagen. Heersum, das ist ein Dorf in Südniedersachsen, 45 Kilometer südlich von Hannover, rund 500 Einwohner. Die meisten von ihnen sind wild nach Theater.
Jedes Jahr, wenn der Sommer naht, mutieren Bauern und Kaufleute, Vierjährige und Rentner zu Schauspielern, Kulissenbauern, Kostümschneidern. Die Fäden hält das „Forum für Kunst und Kultur“ zusammen, eine Initiative, die vor 14 Jahren von Kulturpädagogik-Studenten der nahen Hildesheimer Uni gegründet wurde. Für die Hauptrollen werden ein paar Profis engagiert, die Leitung hat der freie Regisseur Uli Jäckle. Diesmal gibt‘s ein Hochgebirgsabenteuer: Heindi – ein Alptraum in der Börde.
Eine Berggeschichte im platten Land: Das ist so recht nach dem Geschmack der Dorfbewohner. Voriges Jahr haben sie die Unterwasser-Story von Meersum erzählt, nachdem zuvor schon Bördiana Jones, Aste Rix und andere internationale Berühmtheiten ihre Visitenkarten hinterlassen haben. Ein eigens eingerichtetes „Heimatmuseum“ bestätigt: Je skurriler die Geschichte, desto mehr sind die Heersumer in ihrem Element. Und das Publikum ebenso: Seit Jahren sind sämtliche Vorstellungen ausverkauft, die Kunde vom eigen- und einzigartigen Theater hat sich bis Kiel und Garmisch herumgesprochen.
Einzigartig ist es vor allem deshalb, weil nicht im muffigen Saal eines Landgasthofs gespielt wird, sondern auf Äckern und Wiesen. Die Natur hat sowieso die schönsten Kulissen, lautet die Devise. Allerdings wird gern ein bisschen nachgeholfen: Für Desperados wurde ein Bahnhof in eine Westernstadt umgebaut, ein Dampfzug aus den 30er Jahren fuhr von Szene zu Szene. Das Publikum war dankbar, denn sonst muss es meist Kilometer weit mitwandern: Heersum macht nicht nur Landschafts-, sondern auch Trekkingtheater.
In diesem Jahr besteht der Treck aus Autos –noch so eine Verrücktheit. Denn die mehr als dreistündige Heindi-Handlung will es, dass der größte Berg Deutschlands, der bis dato in der Börde stand, über Nacht verschwunden ist. Der „Wöhlmann“ war das geliebte Refugium all des Alpenvolks, das vor den Touri-Massen geflohen ist: Heindi und Geißenpeter, Alm-Ödi, dazu jede Menge Bergwiesenbewohner wie Schnecken, Mücken oder Marienkäfer. Eine Kommissarin kommt per Tandem-Fallschirm geflogen, sogar ein Yeti taucht auf. Ursprünglich war er mal ein Trecker, jetzt ist er ein haushohes, fauchendes Ungetüm.
140 Akteure sind beteiligt: Alle zusammen machen sich auf die Suche nach dem Berg. Die Zuschauer steigen ins Auto und fahren hinterher. Es könnte gut der erste inszenierte Theaterstau überhaupt sein. Rund 500 Zuschauer, die meisten im eigenen Pkw, einige im Bus: Das ergibt einen Konvoi von zwei, drei Kilometern Länge, der im Stop-and-Go vorwärts schleicht. Langweilig wird’s dabei nie, weil am Straßenrand die Sieben Zwerge picknicken oder die Ottbergener – den Ort gibt‘s wirklich – ihren Bürgersteig mit dem Staubsauger reinigen. Währenddessen informiert und unterhält ein eigener Radiosender die fahrenden Zuschauer.
In einem ehemaligen Munitionsdepot der britischen Armee wird zur großen Schlussszene geblasen; auf Flöte und Tuba nämlich, von Akkordeon und Trommel begleitet. Live-Musik gehört bei den Heersumer Produktionen unbedingt dazu, ebenso wie lärmende und stinkende Maschinen: Neben dem Yeti raucht ein Riesen-Rolls-Royce mit lebendiger Kühlerfigur heran und die Müllabfuhr sammelt knallbunte Menschen-Insekten ein. Am Ende wird alles gut, der Möhlmann wird befreit und zieht zu seinen Verwandten in die Alpen. Heindi und Peter hingegen bleiben, getreu dem berühmten Lied: „Heindi, Heindi, deine Welt ist die Börhörde.“ Ralf Neite
Aufführungen: 26./27. 06., 3./4. 07., sowie 14./15., 21./22. & 28./29. 08. Karten: ☎ 050 62/8 93 80. Infos: www.soziokultur-niedersachsen.de