: Unglückliche Helden
50 Jahre nach dem Anschlag auf Hitler ist vielen Deutschen noch immer nicht klar, dass Kommunisten ebenso zum Widerstand gehörten wie die Verschwörer des 20. Juli
Es war lange tabu, mit dem Widerstand gegen das Naziregime kritisch umzugehen. Wir hatten so wenige Helden, so viele „willige Vollstrecker“, dass an diesem spät geschaffenen Mythos nicht gerührt und nicht gefragt werden durfte, was die Offiziere des Widerstandes denn im täglichen Kriegsgeschehen vor allem im Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion so alles gemacht hatten, ob sie sich gar an dem einen oder anderen Kriegsverbrechen beteiligt hatten, um nicht enttarnt zu werden. Der 20. Juli, der sich jetzt zum sechzigsten Male jährt, kam spät, zu spät. Wäre er gelungen, welch neue, diesmal alles überwältigende, nicht mehr aussterbende Dolchstoßlegende würde sich gebildet haben – aber wie viele Menschen wären am Leben geblieben?
Jahrzehntelang wurde in Westdeutschland der Eindruck gepflegt, als habe der Widerstand der Wenigen nur in Offizierskasinos, Herrenhäusern und Salons stattgefunden. Um den Widerstand der „kleinen Leute“, der Arbeiter, der Kommunisten, gar um den eines Einzelgänger wie Georg Elser, kümmerte sich kaum einer, wenn er nicht als linker Außenseiter und Kommunistenfreund denunziert werden wollte. Und wer sagte schon, es habe in den Mannschaftsrängen mehr als 100.000 Deserteure und sonstige „Wehrkraftzersetzer“ gegeben, von denen 30.000 exekutiert wurden? Die DDR, unter antifaschistischen Vorzeichen gegründet, erkannte nur den kommunistischen Widerstand an, der tatsächlich die meisten Opfer gebracht hatte, und ließ die andere Opposition erst in den letzten Jahren ihrer Existenz zögerlich gelten.
Immerhin hatte Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai 1985 der „Opfer des deutschen Widerstandes, des bürgerlichen, militärischen und glaubensbegründeten, des Widerstands in der Arbeiterschaft und bei den Gewerkschaften, des Widerstands der Kommunisten“ gedacht. Neun Jahre später drohte der Stauffenberg-Sohn Franz Ludwig, die „Gedenkstätte Deutscher Widerstand“ und die Feiern zum 20. Juli zu boykottieren, falls dort die Ausstellungsstücke zur Würdigung kommunistischer Widerständler nicht entfernt würden. Er und Joachim Fest waren sich einig: Bilder von Walter Ulbricht und Wilhelm Pieck hätten in der Gedenkstätte nichts zu suchen.
Es war und ist für viele noch immer nicht zu begreifen, dass das Nationalkomitee „Freies Deutschland“, Ulbricht und Pieck ebenso zum Widerstand gehören wie die Verschwörer, die nach dem 20. Juli 1944 umgebracht wurden. Der Widerstand war vielfältig und brüchig organisiert: Kaum einer wurde gefragt, woher er komme und wohin er wolle, wenn er nur bereit war, das Naziregime und Hitler zu beseitigen. Deshalb ist es auch eine sehr fragwürdige Vereinfachung, vom „20. Juli“ zu sprechen, wenn mehr gemeint ist, als dass Claus Graf Stauffenberg an diesem Tag versuchte hatte, Hitler in seinem Hauptquartier umzubringen. Tatsächlich lässt man sich da den Stempel der Gestapo aufdrücken.
Aber wer diskutiert heute noch den Widerstand? Vielleicht die jungen Soldaten, die just am 20. Juli vereidigt werden?
Einiges hatten die meist konservativen Widerständler alle gemeinsam: Sie trugen schwer an ihrem Eid, sie waren deutsche Nationalisten, antidemokratisch, also gegen die Weimarer Republik, die, davon waren sie überzeugt, nicht an ihnen, sondern an den Folgen des Versailler Friedensvertrages zugrunde gegangen war. Sie waren überwiegend antisemitisch und den Grundideen der Nazis mindestens anfänglich durchaus zugetan, auch wenn sie von deren pöbelhaften Gewaltmethoden angewidert waren. Und da sie auch fast alle geradezu bösartig antikommunistisch waren, hatten die wenigsten etwas an Hitlers Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 auszusetzen. Auf gar keinen Fall wollten sie, dass Deutschland den Krieg verlor. Verhasster Hitler hin oder her, die deutschen Interessen sollten gewahrt werden. Der erst im Juni 1944 wieder zu den Widerständlern gestoßene General Eduard Wagner sagte, es „sei untragbar, dass der Russe kämpfend ins Reichsgebiet eindringt“. Auch der Oberst und kurz vor dem 20. Juli jüngste Generalmajor Henning von Tresckow meinte, man müsse die Rote Armee „von Mitteleuropa fernhalten“. Patrioten, hoffnungslos zerrissen zwischen Einsicht und Vaterlandsliebe. Das erinnert – fast spiegelbildlich – an die sozialdemokratischen Emigranten in England, deutsche Nationale, die zwar die Niederlage Nazideutschlands wünschten, aber deren Folgen nicht mittragen wollten.
Aber eben jene Widerständler an der Ostfront wussten nicht nur von Verbrechen, sondern nahmen an ihnen teil – oder duldeten sie. Als 1995, also fünfzig Jahre nach dem Ende des Krieges, der Begleitband zur so genannten Wehrmachtsausstellung erschien und Christian Gerlach schrieb, Offiziere des militärischen Widerstands wie Henning von Tresckow und Rudolf-Christian Freiherr von Gersdorff seien an Kriegsverbrechen beteiligt gewesen, erhob sich ein Entrüstungsgeschrei – das durfte nicht sein! Marion Gräfin Dönhoff, damals Herausgeberin der Zeit, und Richard Freiherr von Weizsäcker, empörten sich in der Zeitung aus Hamburg über die „Selbstgerechtigkeit der Nachgeborenen“ und diesen „gewissen Christian Gerlach“. Gräfin Dönhoff meinte, Gerlach habe „die Kenntnis von Verbrechen als bedeutungsgleich mit der Beteiligung an Verbrechen“ bewertet.
Aber da haben der „gewisse Gerlach“ und Gerd R. Ueberschär ebenso höflich wie entschieden widersprochen und nachgewiesen, dass Tresckow und Gersdorff und nicht wenige andere Widerständler dem Teufelskreis nicht hatten entrinnen können und nicht nur Mitwisser, sondern auch Mittäter waren– und dass das, was Richard von Weizsäcker behauptet hatte, an entscheidenden Stellen nicht wahr ist. Hitler-Gegner Generaloberst Hoepner zum Beispiel war bereit, einen Giftgaskrieg gegen Bewaffnete wie auch die vor den Kriegshandlungen oder den Repressalien der Besatzungsmacht in die Wälder geflüchtete Zivilbevölkerung zu führen, und Tresckow wie auch General Carl-Heinrich von Stülpnagel und Generalquartiermeister Eduard Wagner unterstützten brutale Einsätze gegen Partisanen und die dazu erklärten Juden, großräumige Gewaltaktionen, die sich hauptsächlich gegen unbewaffnete Zivilisten richteten und tausenden das Leben kostete.
Nicht wenigen Widerständlern war es am Ende wichtiger, das Regime zu stürzen, als selbst frei von Schuld zu sein. „Wir alle haben so viel Schuld auf uns geladen – denn wir sind ja mitverantwortlich, dass ich in diesem einbrechenden Strafgericht nur eine gerechte Sühne für all die Schandtaten sehe, die wir Deutschen in den letzten Jahren begangen bzw. geduldet haben“, schrieb Generalmajor Helmut Stieff schon im Januar 1942 an seine Frau – als die geradezu zwangsläufige Folge der Zeitgenossenschaft. Patriot und Widerständler – eine unauflösliche Katastrophe: „Unglücklich das Land, das Helden nötig hat“, schrieb Bertolt Brecht in „Das Leben des Galilei“. HEINRICH SENFFT