: Aus deutscher Sicht
Die Vertriebenen-Lobby will in Berlin ein „Zentrum gegen Vertreibungen“ etablieren. Der nötigen Erinnerung an Flucht und Unrecht würde dieses Zentrum kaum dienen
„Schneekoppe!“ Das klingt seit Jahrzehnten unverändert nach einem Werbejingle für Reformkost – für die einen. Für die anderen, älteren, klingt Schneekoppe nach Sommerfrische und Winterurlaub, nach Riesengebirge, nach Schlesien oder Böhmen. In der Tat, das Logo der Reformkostmarke enthält die Umrisse einer schneebedeckten Bergkuppe in einer charakteristischen Form. Der Schneekoppe nämlich, des höchsten Berges des Riesengebirges, auf dessen Kamm heute die Grenze zwischen Polen und Tschechien verläuft. Die heute in Seevetal ansässige Firma wurde 1927 von Fritz Klein in Schlesien am Fuße der Schneekoppe gegründet. Damals gab es dort zahlreiche Lebensmittel verarbeitende Firmen. Fritz Klein spezialisierte sich auf den Versand von Leinsamen und Leinöl aus der Region. Seit dem 2. August 1945 gehörte das Riesengebirgsvorland nicht mehr zu Deutschland. Die Alliierten sprachen es Polen zu. Die Deutschen wurden vertrieben. Und Schneekoppe war für viele Bundesdeutsche nur noch ein Markenname.
Geschichten wie diese, vom Verlust einer Heimat und vom Verschwinden der Orte aus dem kollektiven Gedächtnis, gibt es viele. Und es ist dringend an der Zeit, sie zu erzählen. Seit einigen Jahren mehren sich die Romane, in denen die Enkelgeneration dem Leben ihrer Großeltern im früheren deutschen Osten nachspürt, auf der Suche nach Orten und Erinnerungen.
Eine andere Gruppe erzählt diese Geschichten schon lange: die Vertriebenenverbände. Ihre Klagen über das Unrecht, das ihnen widerfahren ist, über Flucht und Vertreibung, den Verlust von Heimat und Besitz, ihre Forderung nach finanziellem Ausgleich und nach Rückerstattung von Haus und Hof haben die ersten Jahrzehnte der Bundesrepublik geprägt. In den 80ern waren sie verhaltener geworden, nach dem Mauerfall wurden sie wieder vehementer. Nachdem der Bund der Vertriebenen (BdV) jahrelang die Verhandlungen der Bundesrepublik mit der Tschechischen Republik erschwert hat, gibt es nun einen neuen Vorstoß: die Gründung eines „Zentrums gegen Vertreibungen“. Ein etwas verklausulierter Name: Was soll hier zentralisiert werden? Wie soll eine zentrale Institution mit einem negativen Geschäftsziel arbeiten? Und: Warum Vertreibungen im Plural?
Dass sich der BdV zum Thema „Vertreibung“ äußert, ist nahe liegend. Schließlich versteht er sich als Lobby aller deutschen Vertriebenen. Nur ist es nach den Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte ein Gebot der Vorsicht, genauer hinzusehen, was Frau Steinbach und ihre Gefährten im Schilde führen, wenn sie versuchen, Unterstützer aus allen politischen Lagern in ihr Boot zu ziehen. Was also soll „Vertreibungen“ bedeuten? Folgt man der Satzung des „Zentrums“, ist es in erster Linie die Vertreibung der Deutschen nach 1945. Um an ihr Leid zu erinnern, soll es eine Ausstellung, eine Forschungseinrichtung und eine „Gedenkrotunde“ geben. Die Forderung, die Verluste der deutschen Vertriebenen besonders zu würdigen, vertritt der BdV seit seiner Gründung. Neu ist dessen Ansinnen, die deutsche „Vertreibung“ in den europäischen Kontext einzuordnen.
So sah bereits der Friedensvertrag am Ende des Ersten Balkankrieges 1913 groß angelegte Bevölkerungstransfers vor, um ethnisch homogene Nationalstaaten zu errichten. Weitere Umsiedlungen dieser Art folgten. Bei jeder dieser Aktionen wurden zahlreiche Menschen getötet. In die Opferperspektive „Vertreibung ist Unrecht“ will also der BdV andere europäische Vertreibungen einbeziehen. Allerdings fehlt dabei die brutalste Vertreibung des 20. Jahrhunderts: der Holocaust. Und hier waren bekanntlich die Deutschen Täter. Doch dies ist ebenso wie etwa die Folgen des Münchener Abkommens für die Tschechen im Sudetenland nicht Gegenstand des „Zentrums gegen Vertreibungen“. Es blendet aus, dass die Vertreibung der Deutschen eine Vorgeschichte hat.
Der Versuch, das Thema Vertreibung in die europäische Dimension auszuweiten, ist eher ein Ablenkungsmanöver, um auf die Vorgeschichte verzichten zu können. An dieser Stelle krankt die gesamte öffentliche Debatte, die sich um den Vorstoß von Frau Steinbach entzündet hat. Denn die Frage, die lediglich diskutiert wird, lautet: Wie viel Europa? Doch unklar bleibt, in welcher Rolle vor allem Tschechen und Polen einbezogen werden sollen. Sollen sie in den Chor der Opfer einstimmen, und sich daran erinnern, wie sie von den Deutschen und den Sowjets vertrieben wurden? Oder sollen sie sich schuldbewusst an die eigene Brust klopfen und öffentlich bedauern, dass sie den Deutschen durch die Vertreibung Unrecht getan haben? Warum überhaupt müssen die europäischen Nachbarn in diese innerdeutsche Debatte einbezogen werden?
Die Verengung des Blicks auf die Vertreibung lässt nicht nur die Vorgeschichte, sondern auch die Entwicklung danach im Dunkeln. In der Biografie eines Menschen dauert Flucht nicht lange, oft nur wenige Wochen bis Monate. Viel länger wirkt der Schmerz, den Verlust zu verarbeiten. Dafür war in der Bundesrepublik wenig, in der DDR gar kein Raum. Das lag nicht zuletzt daran, dass der BdV unnachgiebig Mitleid und Kompensation, wenn nicht Rückerstattung einforderte und damit das Diskussionsklima vergiftete. Der BdV hat das Thema „Vertreibung“ besetzt und alle anderen Stimmen unter den Tisch gekehrt. Und genau das Gleiche ist nun noch einmal passiert: Der Grundsatzbeschluss des Bundestages vom 4. Juli 2002, einen „europäischen Dialog über die Einrichtung eines europäischen Zentrums gegen Vertreibungen“ zu führen, wäre ohne die unermüdliche Lobbyarbeit von Erika Steinbach nicht zustande gekommen. Und nach dem Beschluss – welch Wunder – stellte sich heraus, dass die Institution mit dem merkwürdigen Namen bereits eingerichtet ist. Es gibt ein „Zentrum gegen Vertreibungen“, und solange es wie bisher eine Einrichtung des BdV ist, wird es unmöglich sein, es grundlegend zu verändern.
Doch bevor man versucht, mit Gegengründungen dem BdV das Wasser abzugraben, wäre es sinnvoll, noch einmal zu überlegen, welche Art der Auseinandersetzung über die deutsche Geschichte jenseits von Oder und Neiße die Gesellschaft der Bundesrepublik wirklich braucht. Ist es wirklich nur die Erinnerung an die Vertreibung? Oder ist es nicht viel mehr die Erinnerung an das gelebte Leben der Eltern, Großeltern und Urgroßeltern vor der Vertreibung und auch nach der Vertreibung? Ist es nicht auch die Geschichte des nationalsozialistischen Pommerns, Schlesiens und Ostpreußens? Sind es nicht die Geschichten vom Leben an der Schneekoppe und auf der Kurischen Nehrung, die im allgemeinen Bewusstsein fehlen? Dafür aber, das zeigen die Romane von Stephan Wackwitz und Reinhard Jirgl, die Filme von Volker Koepp, brauchen wir weder den BdV noch ein europäisches Zentrum. Betrachten wir Frau Steinbachs Bemühungen als ein Lehrstück für Lobbyarbeit und wenden uns den wesentlichen Fragen zu.
SABINE VOGEL