: Hungrig ins Ferienbett
Wandern, Tee, Leberwickel und Schwimmen sollen beim Heilfasten im Allgäu zu neuem Wohlbefinden verhelfen. Auch ein täglicher Darmeinlauf gehört zum Wellnessprogramm
VON JOSEPH WEISBROD
Andächtig starren wir auf unsere Teller. Auf jedem ein Apfel. Sonst nichts. Pausbäckig lacht er uns an. Fast eine halbe Stunde brauchen wir, um das dralle Prachtstück in seine Elementarteilchen zu zerlegen und sorgfältig zu zerkauen. Ein wahrer Festschmaus! Nach fast einer Woche ohne ein Gramm feste Nahrung. Ohne Kaffee, Salz, ohne den Vitamin-B-Killer Zucker, ohne Alkohol und Zigaretten sowieso. Stattdessen Tee bis zum Abwinken: Kräuter, Raibush-Vanille, Grüner Hafer, Apfel-Zimt, Preiselbeer, Fenchel, Verbene, Zitronen. Mittags Obstsäfte. Abends eine aus frischem Gemüse destillierte klare Brühe.
Sechs Tage und sechs Kilo früher. An einem sonnigen Sonntagnachmittag erreiche ich das an den Illerstausee angrenzende, von einem Freund empfohlene „Haus am See“. Einsam liegt mitten im Landschaftsschutzgebiet der umgebaute ehemalige Bauernhof. Später sitzen wir am großen Holztisch im hellen, gemütlichen Gemeinschaftsraum: Christiane und Dorothee, Mutter und Tochter aus München, Gisela aus Köln, Pia aus Würzburg, Brigitte Gerlinde aus dem Hessischen und ich als einziger Vertreter des fastenmäßig eher schwachen Geschlechts.
Christine, die einfühlsame Seminarleiterin und fürsorgliche Hausherrin, erläutert uns nach der obligatorischen Vorstellungs- und Mit-welchen-Erwartungen-bist-du-hergekommen-Runde das Programm für die nächsten Fastentage. Sie warnt, dass wir uns am Anfang schwer tun und unsere Krise durchmachen werden. Und dass es darauf ankomme, Ballast abzuwerfen und den Darm zu entleeren. So endet der erste Tag auch mit der widerwilligen, aber entschlossenen Einnahme eines halben Liters mit Glaubersalz versetzten Quellwassers. Der bittere Cocktail verfehlt seine schleusenöffnende Wirkung nicht.
Montag morgen, neun Uhr. Im vom Sonnenlicht durchfluteten Hallenbad treffen wir uns zur Frühgymnastik im Wasser. Eine halbe Stunde Übungen, die den Körper langsam, aber stetig auf Betriebstemperatur bringen. Um zehn Uhr „Frühstück“: Frühstückskräuter- und andere Tees, das herrliche, energetisch aufbereitete Quellwasser, das es aus jedem Hahn gibt, ein Löffel Honig, Zitronenschnitze, Apfelessig und – bei Bedarf bzw. Unwohlsein – ein Glas in Wasser aufgelöster Heilerde. Der eine oder andere Magen knurrt unüberhörbar.
Plötzlich kommt Inge hereingeschneit. Ihre Fröhlichkeit steckt sofort an. Sie ist für die Wandertouren und die Abendgestaltung verantwortlich. Nun beginnt das tägliche Herzstück unserer Fastenwoche. Eine zweieinhalbstündige Wanderung durch das hügelige voralpenländische Oberallgäu.
Der Oberallgäuer Rundwanderweg führt direkt an der Haustür vorbei. Wir durchwandern, vorbei an vereinzelten Gehöften, riesige Weiden, dichte Mischwälder und bergige Anhöhen, genießen die Voralpenlandschaft, den Fernblick auf die Zugspitze und die sonnigen Vorzüge eines Hochs mit weiblichem Namen, das uns die ganze Woche über verwöhnen soll. Zwischendurch gönnen wir uns kurze Rastpausen mit Tee, Saft und Zitronenschnitzen. Das hält uns fit.
Um 14 Uhr das frugale Mittagsmahl: frische Obstsäfte, die – weil in ihrer natürlichen Konzentration zu stark – mit Quellwasser verdünnt werden. Dann ein Hausmittel, das wir von unseren Großeltern her kennen. So genannte Leberwickel. Ein zu einem Drittel mit warmem Wasser angefeuchtetes Leinhandtuch wird um eine heiße Wärmflasche gewickelt und auf die Leber gelegt. Die Leberwickel fördern die Entgiftung des Zentralorgans und tun himmlisch gut. In den folgenden Tagen kombinieren wir diese wärmende Wohltat mit einem ausgiebigen Sonnenbad auf dem Liegestuhl im Garten vor dem Seminarhaus. Die Sonne hat, rund 700 Meter über dem Meer, eine solche Kraft, dass man sich sogar im Winter in Badehose und Bikini räkeln könnte.
Oberstes Gebot: Stets mehr trinken, als der Durst verlangt. Den ganzen Tag über stehen mächtige Thermosflaschen mit den verschiedensten Teesorten bereit. Zum Abendessen ein Teller Gemüsebrühe, die mal nach Broccoli, mal nach Blumenkohl, mal nach Tomate schmeckt. Danach Abendprogramm im studioartigen Seminarraum unter dem Dach. Inge klärt über den Sinn des Fastens auf. Und über die praktischen Notwendigkeiten. Mir wird klar, was ich unter den zum Fastenseminar mitzubringenden Gegenständen nicht verstanden und daher „vergessen“ hatte. Ein Instrument mit dem beschönigenden lateinischen Namen Irrigator, besser als Einlaufgerät bekannt. Ein Plastikbehälter mit einem langen dünnen Schlauch und einem separaten Rohrstück. Später die Probe aufs Exempel. Ungefähr ein Liter lauwarmes Wasser findet seinen Weg durch den Schlauch in den unendlichen Darm. Der Erfolg kommt prompt. Dieses Ritual, so schärft uns Inge mit all ihrem dem pikanten Thema abzuringenden Charme ein, sollten wir am besten täglich wiederholen, um den Reinigungsprozess wirkungsvoll anzukurbeln.
Das Fastenprogramm hat seine Konstanten. Dienstag und Donnerstag nach dem „Abendessen“ Sauna, Mittwoch und Freitag Abendprogramm im weitläufigen Seminarraum des überaus gastlichen Hauses, wo uns Inge bei Laune und „vollem“ Bewusstsein hält. Mit Atem-, Entspannungs- und Meditationsübungen, begleitet von indianischen bis kosmischen Sphärenklängen. An jedem Inge-Abend schreiben wir unser persönliches Wellness-Profil fort. Es ist gegliedert in „Körperliche Fitness und Gesundheit“, „Emotionale Gesundheit“, „Beziehungen zu Mensch und Natur“, „Mentale Fitness“, „Lebensphilosophie“ und „Wohlbefinden im Beruf“. Ein Punktesystem mündet in ein Kurvendiagramm, dessen Verlauf man bei aufrichtiger Selbstbewertung seine aktuelle körperliche, geistige und seelische Verfassung entnehmen kann.
Ausflüge in die Umgebung sind neben den täglichen Wanderungen eine willkommene Abwechslung. So gelangen wir unter anderem ins nahe gelegene Kempten, eine der ältesten Städte Deutschlands mit römischer Vergangenheit. Die von würdevollen Patrizier- und Fachwerkhäusern gesäumten Altstadtstraßen machen den Bummel durch die Fußgängerzone zu einem höchst erbaulichen Erlebnis. Verführerische Auslagen in Bäckereien, Konditoreien, Metzgereien und die üppigen Speisekarten einladender Gasthäuser lassen uns das Wasser im Munde zusammenlaufen. Wir witzeln in masochistischer Herzenslust über die sirenenhaften Verlockungen und sind stolz auf unsere ungebrochene Widerstandsfähigkeit.
Das unweit des Hauses am See gelegene Altusried steht irgendwann auch auf unserer Wanderroute. Im Sommer gehen hier seit fast hundert Jahren in einer 2.500 Zuschauer fassenden Arena die Altusrieder Freilichtspiele über die gewaltige Naturbühne. Die halbe Einwohnerschaft ist stets im Komparsenheer dabei. Und so manche Ehe soll bei der Einübung von Freiheitsdramen wie „Wilhelm Tell“, „Andreas Hofer“, „Götz von Berlichingen“ oder „Anno 1525 – Bauernkrieg im Allgäu“ durch libidinöse Beziehungen zwischen den Laiendarstellern auf eine harte Probe gestellt worden sein, wie uns Inge zu berichten weiß.
An den ersten beiden Tagen werden vor allem unsere Erstfaster immer wieder von Hungergefühlen, Unwohlsein und einer Art seelischem Kater heimgesucht. Für die ist es auch nur ein kleiner Trost, zu hören, dass Fasten das Natürlichste von der Welt sei. Dass es Naturvölker gibt, die monatelang keine feste Nahrung zu sich nehmen und sich bester Gesundheit erfreuen. Dass das Fasten in der Tierwelt selbstverständlich ist. Man weiß von chronisch oder gar todkranken, von den Ärzten längst aufgegebenen Menschen, die durch langes Fasten wieder völlig gesund und leistungsfähig geworden sind.
Es ist wie ein Wunder: Am dritten Fastentag sind jegliche Hungerattacken wie weggeblasen. Kopf-, Bauch- und Gliederschmerzen, die so mancher Teilnehmerin arg zugesetzt haben, sind einem ruhigen Wohlbefinden, einer tiefen Gelassenheit gewichen. Das Durchschnittstempo bei den bis zu zwölf Kilometer langen Wanderungen steigt merklich. Da mal ein kleines Tischtennisturnier. Dort ein paar Bahnen im Schwimmbad. Keine Reizüberflutungen. Kein Fernseher. Endlich die Bücher lesen, die man schon lange lesen wollte. In sich hineinhorchen. Faulenzen und dösen. Sich besinnen und sein inneres Gleichgewicht finden. Und vor dem Schlafengehen ein Spaziergang unter dem klaren Oberallgäuer Sternenhimmel.
Der Kopf ist klar wie die tägliche Gemüsebrühe, die Alltagsprobleme sind jenseits des Horizontes. Und die Hose beginnt zu schlackern, dass es eine wahre Pracht ist. Fünf Kilo weniger Lebendgewicht haben nach einer Woche den Umfang der Knautschzone merklich reduziert. Die Haut ist hell, weich und glatt wie ein Kinderpopo. Das Gesicht hat wieder schärfere Konturen. Die Energiespeicher sind frisch gefüllt.
Am Ende geben uns Christine und Inge ausführliche Tipps für das Fastenbrechen (daher auch das englische Wort „Breakfast“) und die kommenden Aufbautage mit auf den Heimweg. Denn das Zurückschalten von der inneren auf die äußere Ernährung ist schwieriger und erfordert mehr Disziplin als der Einstieg ins Fasten. Wir beginnen mit einem Apfel.
Ferien- und Seminarhaus am See, Wurms 2, 87452 Altusried, Tel. (0 83 73) 14 28, www.seminarhaus-merz.de. Fastenseminare werden mehrmals pro Jahr angeboten und kosten inkl. DZ mit DU/WC ab 299 € p. P.