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Archiv-Artikel

Physiologischer Schwachsinn

DAS SCHLAGLOCH    von KERSTIN DECKER

S-Hirn und E-Hirn sind die beiden äußersten Pole des Schwachsinns. Dazwischen beginnt das Denken

Um Himmels willen, ich bin ein Mann. Und mein Mann ist eine Frau? Das hat gerade der Spiegel herausgefunden. Im Spiegel steht, dass es S- und E-Hirne gibt. Und wer welches Hirn kriegt, ist schon vor der Geburt entschieden. E-Hirne haben die Frauen und S-Hirne haben die Männer. „E“ muss wohl von „emotional“ kommen, und „S“ von „systematisch“. Aber das erklärt der Spiegel nicht mal, dabei muss er doch eigentlich so schreiben, dass auch E-Hirn-Träger ihn verstehen können. Also Trägerinnen.

Menschen mit S-Hirnen (Männer) können zum Beispiel viel besser räumlich denken. Genau wie ich! Wenn mein Mann irgendwo hin will, fragt er mich immer vorher und ich erkläre ihm dann, wie er da hin kommt. Er hat sonst in Berlin keine Chance. Dabei glaube ich gar nicht, dass ich einen viel höheren Testosteronspiegel habe als er. Die Fähigkeit, sich im Raum zu orientieren, sagt aber ein Cambridge-Professor im Spiegel, soll unmittelbar mit dem Testosteronspiegel zusammenhängen. Und das Schlimme ist, er kann das beweisen. Tierversuch! Weiblichen Ratten braucht man nur Testosteron zu spritzen, und schon verbessert sich ihr Orientierungsvermögen bemerkenswert. Will uns der Spiegel etwa sagen, weibliche Ratten seien, naturbelassen, Idioten?

Im Augenblick erledigt man solche Fragen am besten mit Adorno. Jeder zitiert Adorno. Über die Idiotie der empirischen Wissenschaften – von wegen Tierversuch! – hat Adorno irgendwo auch etwas gesagt. Wenn Adorno den neuen Spiegel lesen würde! Also nicht nur das, was in der letzten Woche über ihn drinstand. Hätte auch heißen können: Wie entsorge ich einen Denker? Das Adorno-Spiegel-Special zeigte, dass selbst der größte Kritiker der Kulturindustrie kulturindustriell voll integrierbar ist. Dass kein Stachel mehr bleiben muss. Man macht ihn mundtot, indem man über ihn redet. Am 11. September wäre Adorno einhundert Jahre alt geworden, und es gehörte doch schon einiges dazu, keine Beziehung zwischen diesem sowohl welt- als auch individualgeschichtlichem Datum und dem Adorno-Satz herzustellen: „Die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils.“ „Dialektik der Aufklärung“. War dieses Gefühl, dass sich hier vor aller Augen etwas längst Gedachtes erfüllte, nicht immer geblieben seit dem 11. September vor zwei Jahren? Ein Gefühl. Also E-Hirn.

Eine Frau fragt: Wie fühlt sich das an? Ein Mann fragt: Wie funktioniert das? Sagt der Cambridge-Professor. Und beweist das diesmal nicht mit Ratten, sondern mit echten Babys. Wenn man weiblichen und männlichen Babys zwei Bilder zeigt – ein Gesicht und ein „Mobile“ aus Gesichtsteilen, eine Art Alien also – dann schaut das weibliche Baby vor allem auf das Gesicht und das männliche Gesicht vor allem auf den Alien. Ist schon ein kluger Versuch. Und vielleicht hat der Professor wirklich Recht. Und damit auch Freud, als er mal vom „physiologischen Schwachsinn des Weibes“ sprach. Weil das Weib eben von Natur aus nur Nestlogiken denken kann, und alle übergreifenden Logiken sind eben keine Nestlogiken mehr. Und der alienfaszinierte Baby-Mann verlässt das Nest demnach schon in der Wiege. Wir erleben also, wenn wir einen Mann in der Wiege sehen, die Geburtsstunde der instrumentellen Vernunft.

Oder sollte man den Spiegel-Professor doch widerlegen? E-Hirn, ein fühlendes Hirn, wirklich? Wer gerade fühlt, der denkt nicht. Das ist das Prinzip der Liebe. Eine gedachte Liebe ist Unfug. Helmut Schmidt und seine Frau haben sich als Fast-noch-Kinder immer gestritten, was wichtiger sei, Gefühl oder Verstand. Steht in Loki Schmidts neuem Buch. Das waren wenigstens noch klare Oppositionen. Also scheinen nur die S-Hirne übrig zu bleiben. Aber denkt die Wissenschaft überhaupt? Nach Adorno nicht. Die Wissenschaft rechnet, rechnen ist nicht Denken. Denken entzündet sich am Widerstand. Systembauen ist die Ausräumung des Widerstands im Denken. Bei Mathematikern, Programmierern und Technikern geht das in Ordnung, bei allen anderen ist es eine höhere Form des Schwachsinns.

S-Hirn und E-Hirn sind also nicht die Durchschnittstypen weiblicher und männlicher Intellektualität, wie der Spiegel sagt, sondern es sind die beiden äußersten Pole des Schwachsinns. Und dazwischen beginnt das Denken.

Aber trotzdem. Man hat es nun mal gelesen. Und plötzlich schaut man die Menschen ganz anders an: S-Hirn oder E-Hirn? Ist gar nicht uninteressant. Adorno zum Beispiel hatte ein absolutes E-Hirn. E-Hirne sind zuständig für das Mitfühlende, das Emphatische, das Anschmiegende. Keiner versteht Adornos Ästhetik und die Moralphilosophie ohne diese Weiberhirneigenschaften. Und die Mimesis – Nachahmung, das sich dem Gegenstand Angleichende – ist sogar der Zentralbegriff seiner „Ästhetischen Theorie“. Und Adornos Feindbild Nr. 1 waren die Systembauer in der Philosophie. Nun ahnen wir auch, warum Adorno akademisch so out ist: weil nämlich S-Hirn-Träger E-Hirn-Träger nie ausstehen können. Und die meisten neueren Philosophen sind eindeutige S-Hirn-Inhaber.

Der Irakkrieg ist nur mit einem S-Hirn zuverstehen, genau wie die Bahnreform

Oder nehmen wir die Ostler. S-Hirn oder E-Hirn? Weder noch, könnte denken, wer die neuen Ostalgie-Shows kennt. Ansonsten eher extremes E-Hirn. Regressives-Feel-good-Syndrom. Aber es ist etwas Erstaunliches passiert. Plötzlich sagt das keiner mehr. Ganz plötzlich ist Ostalgie irgendwie in Ordnung. Bis eben war sie das Zeichen, dass man noch nicht in der Bundesrepublik angekommen ist. Nun gut, inzwischen wäre es ohnehin etwas spät. Harald Martenstein hat eben im Berliner Tagesspiegel den weit und breit klügsten Artikel über Ostalgie geschrieben. Und auch, dass die Westler ironischer, die Ostler irgendwie ernsthafter sind. Ist gut gemeint, klingt aber wie: ein bisschen dämlich. Dabei ist Ostalgie ironisch per se. Weil sich kein Mensch einen falschen Erich Honecker und ein paar FDJler zu einer Party bestellen und das vollkommen ernst meinen kann. Haben Ironiker eigentlich S- oder E-Hirne?

S-Hirne nehmen weltweit zu. Also Menschen, die nicht Zusammenhänge (Widerständiges) denken, sondern extreme Ursache-Folge-Beziehungen im hermetischen Raum. Der Irakkrieg ist nur so zu verstehen, genau wie die Bahnreform. Und nicht mal echte Macchiavellisten brauchen sich mehr zu verstellen. Der israelische Militärhistoriker Martin van Creveld plädierte gerade für einen absoluten Schlag gegen die Palästinenser, dessen Hauptmerkmal in seiner völligen Unverhältnismäßigkeit bestehen müsse. Leider sei es für einen solchen Schlag schon fast zu spät. Dabei ist der Mann gar nicht grausam, er ist nur ein S-Hirn-Träger. Ein S-Hirn-Träger, der auf der anderen Seite lauter E-Hirne annimmt. Denn archaische, religiöse Logiken sind immer emotional, sie sind mimetisch im Sinne Adornos. Sie glauben an die Überwältigung. Aber das wirklich Erschreckende daran ist: Man ist schon fast bereit, das mitzudenken. Mitzurechnen. Mit solch wissender Preisgabe der Humanität erfüllte sich die dunkle Prophezeiung Adornos, dass die Aufklärung, die den Mythos überwand, an den Mythos zurückfällt.