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Archiv-Artikel

„Bleibe im Untergrund“

Vor zwanzig Jahren stürzte sich der Asylbewerber Cemal Altun aus Angst vor einer Auslieferung in den Tod. Sein Anwalt, der spätere grüne Justizsenator Wolfgang Wieland, war im Saal, als Altun sprang

Interview ANDREAS SPANNBAUER

taz: Herr Wieland, vor zwanzig Jahren hat sich der kurdische Asylbewerber Cemal Altun aus dem Fenster des Berliner Verwaltungsgerichts gestürzt. Sie waren damals sein Anwalt. Wie weit standen sie von ihm entfernt, als er sprang?

Wolfgang Wieland: Cemal Altun saß vor Beginn der Verhandlung genau zwischen mir und dem Dolmetscher. Plötzlich sprang Altun auf. Ich dachte noch: Der wird doch nicht auf den Wachtmeister losgehen, das ist doch nicht seine Art! Dann ist er in einer einzigen Bewegung auf die Fensterbank gestiegen und ohne zu zögern durch das geöffnete Fenster gesprungen.

Wie haben die Anwesenden reagiert?

Das war für uns ein völliger Schock. Für mich ist es bis heute ein Trauma. Der Saalwachtmeister, der das Fenster geöffnet hatte, weil es an diesem Tag stickig war, bekam einen Nervenzusammenbruch. Es war sofort klar, dass Cemal tot war. Alle waren fassungslos. Es war ja ein Verfahren, das unter den Augen der Weltöffentlichkeit stattfand. Am ersten Verhandlungstag war der größte Saal, den es in dem Gericht gibt, mit Beobachtern aus aller Welt und engagiertem Publikum voll gewesen.

Woher kam die öffentliche Aufmerksamkeit?

Am Fall von Cemal Altun zeigte sich einerseits der Auslieferungswille des Staates. Auf der anderen Seite gab es die Empörung gegen die geplante Auslieferung an ein Folterregime, erst recht im Fall von jemanden, der zuvor bereits als Asylbewerber anerkannt worden war.

Warum sprang Altun?

Er glaubte nicht mehr an einen guten Ausgang. Nach dreizehn Monaten Auslieferungshaft in einer Einzelzelle in Berlin-Moabit war er zermürbt. Er hatte ja täglich Angst, aus der Zelle geholt und ins Flugzeug gesetzt zu werden.

Was warf ihm die Türkei vor?

Es ging um eine angebliche Beteiligung an einem Attentat auf einen ehemaligen Minister. Altun hat dies immer bestritten. Ich habe ihm felsenfest geglaubt.

Wovor hatte er diese entsetzliche Angst?

Viele Asylbewerber hatten von Folter berichtet. Es war ja in der Bundesrepublik gerichtlich anerkannt, dass in der Türkei systematisch gefoltert wurde. Es wurde damals nur anders bewertet. Das Argument war: Weil Folter in der Türkei so normal ist, ist erlittene oder drohende Folter kein Asylgrund. Das waren schlimme Abwege der Justiz, die inzwischen zum Teil geheilt sind. Aber eine Gesetzesänderung, die einen Vorrang des Asylverfahrens vor dem Auslieferungsverfahren beinhaltet, fehlt bis heute.

Was ist damals unmittelbar danach passiert?

Es gab eine große Demonstration zu dem Kammergericht. Tage später haben Menschen aus ganz Deutschland Cemal auf ihren Schultern durch die halbe Stadt zum Friedhof getragen.

Welche Auswirkungen hatte der Selbstmord, der ja kurz nach dem Antritt der Regierung Kohl stattfand, auf das politische Klima?

Nach Cemals Tod haben sich Kirchen und nicht zuletzt auch die Grünen für eine Änderung der Gesetzgebung eingesetzt. Unmittelbar danach entstand die Kirchenasylbewegung. Man wurde vorsichtiger, was den Auslieferungsverkehr mit der Türkei anging.

Damals haben die Grünen noch offene Grenzen gefordert. Seit dem Antritt von Rot-Grün haben sich 35 Asylbewerber in der Abschiebehaft das Leben genommen. Sind die Gesetze zu wenig liberalisiert worden?

Das ist sicherlich der Fall. Eine Humanisierung der Ausländerpolitik im großen Stil steht immer noch aus. Man muss aus dem Schicksal von Cemal Altun auch die Folgerung ziehen, dass auch am normalen Funktionieren unseres Rechtsstaates ein Mensch zerbrechen kann.

Was für ein Mensch war Ihr Mandant?

Er war ein ruhiger junger Mann, fast noch ein Gymnasiast. Während der Haft hat er mir immer wieder gesagt, so habe er sich die Bundesrepublik nicht vorgestellt. Seine Lehrer hatten ihm immer erzählt, wie großartig der deutsche Rechtsstaat war. Dieses Bild war völlig vernichtet. Ich habe mich als sein Anwalt oft fragen müssen: War es richtig, ihm zu raten, einen Asylantrag zu stellen? Oder wäre der richtige Rat gewesen: Bleibe illegal, bleibe im Untergrund?