: Vorruheständler wider Willen
Selbst als der Abschied unvermeidlich ist, tut sich Johannes Rau schwer. Loslassen hat er auch in 50 Monaten als Bundespräsident nicht mehr gelernt
aus Berlin PATRIK SCHWARZ
Um das Ergebnis vorwegzunehmen: „Ehefrau in Badewanne erstochen“, steht am Morgen danach auf Seite 1 der Zeitung B.Z., die sich besonders bei den Pendlern in der Berliner U-Bahn einiger Beliebtheit erfreut. Der Bundespräsident findet sich wieder in einem Kasten von der Größe eines halben Butterbrots, rechts oben: „Rau hört auf“. Daneben steht die Annonce für die TV-Beilage Prisma. So viel zum Echo, das der bedeutsamste Abend in Johannes Raus letzem Amtsjahr bei seinem Volk findet.
19.04 Uhr. Mehrfach hat Johannes Rau schon Luft geholt, sie aber immer wieder entweichen lassen und lieber ein Würstchen zum Mund geführt. Nun erhebt sich das Staatsoberhaupt von der hellbraunen Bierbank, die das Protokoll für den alljährlichen Umtrunk mit Reportern auf die Terrasse des Schlosses Bellevue gestellt hat. Tritt er seinen schwersten Gang an? Der Verzicht auf das Amt, das er am liebsten behalten hätte? Sagt er’s jetzt? Ein Präsidialer schüttelt stumm den Kopf.
Der Präsident geht pinkeln. Nach bald fünf Jahren Seite an Seite erkennen Beamte die Absichten ihres Schützlings an der Körperhaltung.
Nach der Rückkehr legt Rau los. Und für Minuten scheint alles wieder auf, was ihn als Präsidenten ausgemacht hat. Zum Schlechten zuerst, zum Guten danach. Loslassen hat er in seinen 50 Monaten als Bundespräsident so wenig gelernt wie in 40 Jahren als SPD-Abgeordneter, Ministerpräsident, Kanzlerkandidat und Parteivize. „Es bleibt eine Fülle zu tun in den zehn Monaten, die ich noch habe“, sagt er. „Voll und gern“ wolle er die Zeit nutzen, sagt er. „Ich habe heute Abend nicht die Absicht, mich zu verabschieden“, sagt er. So redet er an gegen den Dämon der drohenden Ohnmacht. Seinen ganz persönlichen Dämon.
Als Landesfürst in Nordrhein-Westfalen hat er gelitten, nicht mehr ernst genommen zu werden, nachdem sein Abschied von der Macht feststand. Als Bundespräsident hat er diesen Moment so lange hinausgezögert, dass es allmählich albern wurde. Jetzt müht er sich, einen Eindruck so beständig zu vermeiden, dass er ihn unweigerlich heraufbeschwört: Es ist dies seine letzte Rede als Präsident in voller Kraft.
Aber kann er nicht sogar doppelt frei sprechen – befreit von falschen Rücksichtnahmen, befreit vom Verdacht des eigenen Karrierekalküls? Rau hofft es, aber überzeugt wirkt er nicht. Der Mann, der als Rentner ins Amt kam, fürchtet zehn Monate als Vorruheständler wider Willen.
Dabei könnte keine noch so großzügige Verlängerung der Amtszeit der Präsidentschaft Johannes Raus zu mehr Relevanz verhelfen. Das hat zum einen mit der begrenzten Wirksamkeit von Bundespräsidenten im Allgemeinen zu tun. Bestenfalls sind sie Magier der Worte, die in seltenen Momenten zu Sprache verdichten, was die Politik ansonsten vermissen lässt – an Nachdenklichkeit, Einsicht oder Weitsicht. Doch der Politveteran litt unter einem zusätzlichen Manko: Als Sozialdemokrat schien er auf einer Bühne, die von Rot-Grün bestimmt war, zwangsläufig blasser, als er war. Um vor dieser Kulisse herauszustechen, hätte er den großen Zampano geben müssen. Persönlich ist ihm das nicht gegeben, und wahrscheinlich war das am Ende gut so.
Raus Stichworte an diesem Abend machen es deutlich: Seine Themen – Ausländerintegration, das Verhältnis zu Israel, die Folgen der Globalisierung – sind die Themen der Regierung. Lediglich ein Wahlsieg Edmund Stoibers 2002 hätte – paradoxerweise – Rau noch zu zwei Jahren echten Glanzes verhelfen können: als Stimme eines lichten Linksliberalismus vor schwarzem Hintergrund.
Nun reichen, doppelt bitter für Rau, die rot-grünen Stimmen nicht einmal aus, ihm in der Bundesversammlung erneut eine Mehrheit zu verschaffen. Sosehr ihm der Abschied in der Septemberbrise also von den Umständen aufgezwungen wurde, so sehr versucht er, ihm ein eigenes Gepräge zu geben.
„Sommerliche Begegnung“ nennt das Präsidialamt das Ereignis. Wenigstens sprachlich versuchen die Mitarbeiter, dem Staatsoberhaupt ein Krönchen aufzusetzen und den Verlust an Feierlichkeit wettzumachen, der besteht, seit 1918 die Bürger dem Kaiser die Krone abnahmen. Ihn selbst hat an seinem Amt mehr überrascht, wie wenig doch die Republik für die Repräsentationsaufgaben ihrer Spitzen ausgibt (sogar die Gemälde in Bellevue sind zur Verwunderung des Schlossherrn geliehen).
Dabei ist der gebürtige Wuppertaler weder Großprotz noch Großkotz. Die Würstlmänner an den zwei Grills tragen rote Sweatshirts, der weiße Schriftzug „Kaiser’s“ auf der Brust würdigt den Beitrag einer großen Einzelhandelskette – und erinnert zugleich daran, dass in einer Demokratie auch der erste Mann im Staate nichts Feineres verzehrt, als was an der Wursttheke jedes Supermarkts erhältlich ist.
Als persönlichen Luxus hat sich der Gastgeber an diesem Abend bloß gegönnt, die Fernsehkameras aus dem Schlossgarten zu verbannen. Als der Präsident seine Zukunft verkündet, kritzeln nur Stifte über Notizblöcke, ganz wie zu Zeiten von Raus Vorbildern Heuss und Heinemann. Im ersten Jahr seiner Amtszeit hatte er sich gar in eine Medienaskese gesteigert, die an Magersucht grenzte. Seinen Beamten verbot er, Redemanuskripte zu verschicken, denn wer den Präsidenten hören wollte, sollte sich gefälligst herbemühen. Als folglich ungedruckt blieb, was er gerne in der Zeitung gelesen hätte, schwenkte er um.
Inzwischen lässt er seinen Charme spielen, und der ist beträchtlich. Als es kühl wird und dunkel, lädt er in sein Amtszimmer: „Rücken Sie sich doch einen Stuhl her!“ Da sitzen dann fünfzehn Menschen unter zusammengeliehenen Gemälden, lassen sich Geschichten erzählen und vergessen für zwei Stunden, dass ihr Job darin besteht, dem Präsidenten kritisch auf die Finger zu gucken. So erklärt sich wohl auch, warum bis zum Tage von Raus endgültigem Abschied auseinander klaffen wird, was eigentlich zusammengehört: Während viele Bürger mit ihm kaum etwas besonderes verbinden, fällt das Urteil aller, die ihn kennen, freundlich aus.